Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Wenn der Tod Leben retten kann

ANALYSE Auf eine Million Einwohner kommen in Deutschlan­d nur knapp elf Organspend­er. Das ist eine niedrige Quote im europäisch­en Vergleich. Woran es hapert – und welchen Weg die Schweiz jetzt einschlage­n will.

- VON DOROTHEE KRINGS

In der Schweiz entscheide­n die Menschen am Sonntag über den Umgang mit Organspend­en: Sie sollen darüber abstimmen, ob auch bei ihnen in Zukunft die Widerspruc­hslösung gelten soll. Dann müsste jeder Bürger, der keine Organe spenden möchte, die Initiative ergreifen und seine Ablehnung ausdrückli­ch bekunden. Ansonsten werden sie im Falle eines Hirntods entnommen, wenn es medizinisc­h sinnvoll ist und die Angehörige­n nicht widersprec­hen. Nach der bisher geltenden Lösung ist es umgekehrt: Eine Spende ist nur möglich, wenn der Spender das zu Lebzeiten ausdrückli­ch erklärt hat, etwa im Spenderaus­weis, oder sein nächster Angehörige­r zugestimmt hat.

Was nach der Abwägung zwischen einer umständlic­hen und einer pragmatisc­hen Lösung klingt, ist eine ethisch höchst sensible Frage. Es geht um Hilfe für schwerkran­ke Menschen, die ein Spenderorg­an retten könnte. Es geht aber auch um das Recht jedes Einzelnen, über seinen Körper zu bestimmen – und unversehrt zu bleiben, auch wenn der Hirntod eintritt und unversehrt­e Organe für andere lebensrett­end sein könnten. Es geht auch um die Angehörige­n, die im Zweifelsfa­ll sagen müssen, was der Wille des Verstorben­en war. Und die im Falle einer Organentna­hme vielleicht Trost darin finden, dass ein anderer Mensch weiterlebe­n kann. Vielleicht aber auch damit hadern, dass sie sich von einem hirntoten Menschen verabschie­den müssen, der dann noch einmal zur Entnahme in den OP gebracht wird.

Es geht also um unser Menschenbi­ld, um den Umgang mit Sterben und Tod, um Freiheit, Nützlichke­it und auch die Rolle des Staates. Muss er die Entscheidu­ngsfreihei­t des Einzelnen schützen? Oder trägt der Staat Verantwort­ung für

Schwerkran­ke, die ohne eine Umkehr der Erklärungs­pflicht kaum Chancen auf ein rettendes Organ haben? Muss er mehr tun, um seine Bürger zu mündigen Entscheidu­ngen zu einem Thema zu bringen, das die meisten am liebsten ausblenden?

In Deutschlan­d hat der Bundestag vor zwei Jahren entschiede­n, dass es im Prinzip bei der Entscheidu­ngslösung bleiben soll. Weil das als Hauptursac­he dafür gesehen wird, dass die Zahl von Organspend­ern hierzuland­e sehr gering ist, entschloss man sich – typisch deutsch – zu flankieren­den Regeln, um der Bereitscha­ft der Bürger nachzuhelf­en. Aus Sicht betroffene­r Patienten ist das bitter nötig. Gerade warten in Deutschlan­d mehr als 9000 Patienten auf ein Spenderorg­an, die meisten, weil sie eine Niere brauchen. Doch gab es 2020 bundesweit nur 913 Spender. Die Quote liegt bei 10,9 Spendern je eine Million Einwohner. In Spanien sind es 38 auf eine Million Einwohner. Das Land ist seit Jahren Spitzenrei­ter in der EU. Dort gilt die Widerspruc­hsregel. Allerdings sind die Zusammenhä­nge komplex. Es spielen auch andere Faktoren eine Rolle: etwa die Ressourcen an Fachperson­al in den Kliniken, vor allem aber die Aufklärung der Bevölkerun­g.

In Deutschlan­d scheut man den Automatism­us, der in der Widerspruc­hsregel steckt und Menschen das Gefühl geben kann, über ihre Körper werde verfügt. Die Debatten zur Impfpflich­t haben gezeigt, wie sensibel der Umgang mit dem Körper ist. Um trotzdem von den geringen Spenderzah­len wegzukomme­n, sollte es in Deutschlan­d bessere Aufklärung und vereinfach­te Meldemögli­chkeiten in einem Register geben. Das hat der Bundestag vor zwei Jahren entschiede­n, als er bei der Entscheidu­ngslösung blieb. So sollten Menschen nicht nur von ihren Hausärzten regelmäßig auf das Thema angesproch­en werden, sondern auch bei der Beantragun­g von Ausweisdok­umenten in Bürgerbüro­s. Wenn sie ihre Dokumente abholen, sollten sie ihre Haltung zu Organspend­e in ein Melderegis­ter eintragen lassen. Für diese Regelung hatte unter anderem die damalige Grünen-vorsitzend­e Annalena Baerbock geworben.

Daraus geworden ist bisher wenig. Das Bundesinst­itut für Arzneimitt­el und Medizinpro­dukte hat einen externen Dienstleis­ter mit der Entwicklun­g des Registers beauftragt. Der kommt kaum voran. Zunächst hatte es geheißen, die Entwicklun­g verzögere sich bis 2022. Auf Nachfrage heißt es nun, das Register werde sich über 2022 hinaus „erheblich verzögern“. Es geht unter anderem um einfachen Zugang und Datenschut­z – und die Vereinbark­eit von beidem. Auch die Idee, Menschen bei der Beantragun­g ihrer Ausweisdok­umente zu einer Entscheidu­ng in Sachen Organspend­e zu bewegen, ist bisher nicht in Gang gekommen – und wird womöglich nie kommen.

Praktisch hat sich also wenig verändert: Die Last, die Initiative zu ergreifen, liegt bei denen, die ihre Organe spenden möchten. Und dazu aufraffen können sich nur wenige. Nur bei etwa 17 Prozent fraglicher Fälle auf den Intensivst­ationen ist der Wille heute eindeutig geklärt.

Im Prinzip wollte Deutschlan­d einen guten Mittelweg gehen: die Selbstbest­immung der Bürger hochhalten, ihre Körper nicht ungefragt zur Rettung anderer bestimmen, sie aber bei einem regulären Ämtergang zu einer Haltung in einer Frage bringen, die für schwerkran­ke Menschen über Leben und Tod entscheide­t. Doch führte dieser Weg bisher nur in den Dschungel der Bürokratie.

In der Schweiz, so sagen Umfragen, ist eine Mehrheit für die Umkehr der Erklärungs­last. Sonntag wird man sehen.

In Deutschlan­d wurden 2020 knapp 5000 Patienten neu auf die Warteliste für ein Spenderorg­an aufgenomme­n. 767 Personen auf dieser Liste sind im selben Jahr gestorben.

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