Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Endspurt im Nrw-wahlkampf
Rückenwind aus dem hohen Norden in einer Lkw-anhänger-fabrik, Störer bei der Grünen-kundgebung und der Bundeskanzler in Köln – Eindrücke von den Abschlussveranstaltungen der Parteien.
Wenn es ein verbindendes Element zwischen den Parteien in diesem Wahlkampf gegeben hat, dann waren es die Störer, die auf den Marktplätzen des Landes mit Tröten, Bassboxen, Trillerpfeifen und Schreien die Veranstaltungen torpedieren wollten – egal ob bei SPD, CDU, Grünen oder FDP. Hauptsache Krach machen, Hauptsache dagegen sein. Interesse am Dialog? Fehlanzeige!
Entsprechend hat die CDU ihren Wahlkampfabschluss an diesem Freitag kurzfristig umorganisiert. Statt wie ursprünglich geplant in der Strandbar Coconut Beach in Münster ist man auf die Werkshalle des Lkw-anhänger-produzenten Schmitz Cargobull im nahe gelegenen Altenberge ausgewichen. Netter Nebeneffekt: Es drängen sich keine Analogien zu Mallorca-aufenthalten von Kabinettsmitgliedern auf.
Die Ministerpräsidenten Hendrik Wüst (NRW) und Daniel Günther (SchleswigHolstein) stehen vor dem Bus des Nrw-spitzenkandidaten, der in den vergangenen drei Wochen 3500 Kilometer Strecke durchs Land hinter sich gebracht hat. Der Wind zerzaust beiden CDUPolitikern die Haare. „Das ist der Rückenwind aus dem Norden“, scherzt Wüst und grinst in die Kameras. Als er darauf angesprochen wird, wie sehr ihn der Wahlkampf schlauche, entgegnet er nur fröhlich: „Ich könnte noch zwei Wochen so weitermachen. Der Wahlkampf macht Spaß.“Doch bis zur Öffnung der Wahllokale bleiben gottlob nur noch 41 Stunden.
Lange Zeit kam der Wahlkampf nicht so recht in Schwung, kreiste weniger um zentrale Fragen wie bessere Bildung, Transformation, innere Sicherheit oder bezahlbares Wohnen. Die Aufmerksamkeit war anderweitig gebunden. SPD und Grüne trieben mit dem Parlamentarischen Untersuchungsausschuss zur Flutkatastrophe die CDU vor sich her. Die Konservativen wirkten seltsam paralysiert. Das lag auch an der eigenen Mannschaft. Nur scheibchenweise rückte
„Wer vorne liegt, hat den Regierungsauftrag“
Hendrik Wüst Cdu-spitzenkandidat
die frühere Umweltministerin Ursula Heinen-esser mit Details über ihren umstrittenen Mallorca-aufenthalt inmitten der Flutkatastrophe heraus. Schnell platzierte die SPD den Begriff „Mallorca-gate“, der verfing. Heinen-essers Rücktritt erfolgte dann just in dem Moment, als in Köln die ersten Briefwahlunterlagen versandt wurden. In den Umfragen kostete die Affäre wertvolle Stimmen. Doch am 22. April wachte die CDU auf. In einer konzertierten Aktion wurde erst öffentlich gemacht, dass die SPD versucht hatte, Heinen-essers Tochter bei Instagram auszuspähen. Dann rieb Staatskanzleichef Nathanael Liminski den Pua-mitgliedern der SPD unter die Nase, dass es durchaus gängige Praxis bei Kutschaty war, gemeinsam mit seinem Staatssekretär in den Urlaub zu fahren. Prompt war es mit der moralischen Überlegenheit der Genossen vorbei. Am Wochenende setzte die CDU nach und warf der SPD deren Russland-verquickung vor. Seitdem haben die Angriffe der Genossen nachgelassen.
Daniel Günther steht gut gelaunt am Rednerpult. Von seinen 43,4 Prozent können sie hier in NRW nur träumen. „Moin zusammen!“, sagt Günther und richtet dann gleich mal eine Bitte an die geladenen Cduler aus dem Münsterland. „Hendrik ist mein Chef als Vorsitzender der Ministerpräsidentenkonferenz. Und wenn man einen guten Chef hat, dann will man den auch behalten.“Der Saal johlt und klatscht nur noch lauter, als Günther erst über das Podest witzelte, auf dem am Vorabend der deutlich kleinere Thomas Kutschaty beim Tv-duell stand, um auf Augenhöhe mit Wüst zu sein, und dann Wüst und dem Publikum zuruft: „Gemeinsam rocken wir die CDU. Viel Erfolg euch!“
Wüst, dem oftmals vorgehalten wurde, er komme wegen seiner Kunstpausen zu steif daher, steht am orangenen Rednerpult. Im Hintergrund werden unüberhörbar weiter Sattelauflieger zusammengebaut. Von Kunstpausen keine Spur. In dieser Werkshalle mit Heimvorteil und geneigtem Publikum kann man ihm wirklich abnehmen, dass ihm der Wahlkampf Spaß macht. Wüst ruft über den Lärm hinweg: „Wer vorne liegt, der hat den Regierungsauftrag. Darum geht es jetzt auch hier bei uns in NRW.“Groß ist die Sorge, dass die SPD trotz eines zweiten Platzes versuchen könnte, eine Regierung zu bilden.
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Kutschaty hat für seinen Abschluss auf den 130 Kilometer Luftlinie entfernten Roncalliplatz in Köln geladen. Partystimmung herrscht vorm Dom: tosender Beifall, rhythmisches Klatschen für den SPD-SPITzenkandidaten, Fahnen werden geschwenkt. Eine Gruppe an der Absperrung brüllt, dass sie von der Uniklinik Köln ist und den Tarifvertrag für die Entlastung will: „TVE für uns in NRW“, skandiert das Trüppchen. Bejubelt ruft Kutschaty über den Platz hinweg: „Ihr habt so was von recht“, und: „Wir werden diese Wahl gewinnen.“Mit leiseren Tönen erzählt er, wie er mit Schülern, Stahlarbeitern, Pflegekräften gesprochen habe: „Die Leute haben Erwartungen, sie haben Hoffnungen.“Die er natürlich – so die Botschaft – erfüllen will.
Geschützt wird die Veranstaltung durch ein enormes Polizeiaufgebot. Polizeiwagen säumen die Straßenzüge in der Kölner City und umringen den Platz. An allen Ecken stehen Beamte und schwitzen in der Nachmittagssonne. Die erwarteten Störer tun ihr Bestes, um mit Rufen, Sprechchören, Pfeifen und Tröten auf sich aufmerksam zu machen
– doch abgeschirmt und gegen die noch lauteren SPD-FANS haben sie es diesmal schwer.
Rund 1500 Teilnehmer sind nach Zählung der SPD gekommen. Prominente Sozialdemokraten kommen für sie auf die Bühne. Generalsekretär Kevin Kühnert wird schier überrollt von Johlen und Beifall: Nur 18 Kommunen in NRW hätten besonderen Mieterschutz, „das ist doch ein Stück aus dem Tollhaus!“, ruft er. Seine Stimme dringt kaum durch das Tosen. Zwei Ministerpräsidentinnen präsentieren innigste Einigkeit: Hand in Hand kommen Malu Dreyer aus Rheinland-pfalz und Anke Rehlinger aus dem Saarland vor die Kameras. „Nur mit einer starken SPD kann man am Ende auch eine rotgrüne Regierung in diesem Land stemmen“, sagt Dreyer.
Zum abschließenden Höhepunkt: Bundeskanzler Olaf Scholz. Er schlägt keine krawalligen Töne an: Lange spricht er über den Krieg in der Ukraine. „Wir werden keinen Diktatfrieden akzeptieren“, macht er klar. Und er verspricht eindringlich, man schaffe das mit der Energiesicherheit und Unabhängigkeit von Russland. „Aber wir werden einen Weg einschlagen, den unsere Volkswirtschaft auch tatsächlich beschreiten kann.“Man werde viel Geld investieren, Infrastruktur aufbauen und ein starkes Industrieland bleiben. „Deutschland hat nur eine Zukunft als Industrieland“, sagt Scholz. Und kommt dann zu den Nrw-themen: Kitas, Wohnen, er verspricht gute Arbeitsplätze und soziale Sicherheit: „Wir werden niemanden alleine lassen. Thomas Kutschaty, du kannst da auf mich zählen.“
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„Wenn zwei sich streiten, arbeitet der Dritte“, hatte Mona Neubaur kurz nach der Schlammschlacht zwischen CDU und SPD gestichelt. Die Nrw-grünen sind trotz des kurzen Schockmoments beim Anne-spiegel-rücktritt unbeschadet durch den Wahlkampf gesurft. Und sie profitierten nicht zuletzt von der Beliebtheit ihrer beiden Zugpferde im Bund, Annalena Baerbock und Robert Habeck. „Von hier an Grün“– so lautet der Slogan der Partei, und er passt zum Düsseldorfer Hofgarten, wohin die Partei am letzten offiziellen Wahlkampftag ihren Stargast Habeck eingeladen hat. Etwa 500 Bürger sind gekommen, manche spontan, viele mit dem Fahrrad, viele mit Kindern – klassisches Grünenklientel, zumindest auf den ersten Blick. Doch schon nach den ersten Worten der Bundesvorsitzenden Ricarda Lang wird klar: Hier haben sich nicht nur Fans versammelt. Schrille Pfiffe stören die Redner auf der kleinen Bühne, Schilder aus Pappe werden hochgehalten, „Kriegsverbrecher“steht darauf geschrieben und „Habeck weg“. Dabei ist Habeck noch gar nicht da. Dafür Fahrräder mit Afd-werbung und der Düsseldorfer Afd-kandidat Marco Vogt, der den Gegenprotest organisiert hat, mit etwa 50 Leuten, wie er schätzt. Auch kleine Kinder sind dabei, ein etwa Zehnjähriger hält das Anti-habeck-schild. „Wir haben viele Fragen an den Wirtschaftsminister“, sagt Vogt.
Ein ganzer Packen Fragen auf Notizzetteln wird eingesammelt, die wenigsten können beantwortet werden – schon allein wegen der Trillerpfeifen. Ein Aktivist schafft es später sogar in die erste Reihe zu Habeck, klebt sich ans Geländer und schreit. Habeck bleibt cool, lässt ihn eine Frage ins Mikro stellen, „dann müssen Sie nicht so schreien“. Auch die Nrw-spitzenkandidatin geht auf den Protest ein: „Weil ich da
„Die Leute haben Erwartungen und Hoffnungen“
Thomas Kutschaty Spd-spitzenkandidat
hinten ein Schild sehe“, sagt Mona Neubaur, „in diesen Zeiten gibt es nur einen Menschen, der Kriegstreiber ist, und das ist Wladimir Putin.“Neubaur, nach eigenen Worten in den letzten Wochen 13.000 Kilometer durch NRW mit dem E-van gereist, spult Grünen-grundsätze bei diesem 227. Termin im Wahlkampf noch einmal ab. Appelliert an die Zuschauer, zur Wahl zu gehen am Sonntag.
Parteichefin Lang betont das Ziel, NRW zur ersten klimaneutralen Region zu machen. „Putin ist keine Zwischenepisode, sondern ein Dauerlauf – es gibt keine Rückkehr zur Normalität“, sagt Lang. Der Bundesminister, der nach Zugverspätung endlich eintrifft, stimmt zu: „Wir müssen ein Land werden, das den Unterschied macht.“
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Die FDP hatte ihr großes Event zum Wahlkampfendspurt bereits am Donnerstagabend. Für den außerordentlichen Landesparteitag ist der PSD Bank Dome in Düsseldorf im Look der Liberalen herausgeputzt: pinkfarbener Teppich, über allem dreht sich Pink auf Gelb der Fdp-wahlkampfslogan: „Von hier aus weiter“. In einer emotionalen Rede zieht Spitzenkandidat Joachim Stamp die Grenzen gegen die Grünen. Die FDP stehe für wachstumsorientierte Wirtschaftspolitik. „Alles, was wir hier entrümpelt haben, das muss auch weiter entrümpelt werden.“Die Grünen wollten das Gegenteil. „Wir wollen an jeder Schule Talentscouts“– die Grünen wollten die Primusschule, an der Kinder von der ersten bis zur 10. Klasse zusammenbleiben.
Der Gegenkurs ist Programm. Denn, so steht es im Papier zum Wahlaufruf, der an diesem Abend beschlossen wird: „Um den Ministerpräsidenten zu stellen, wird die CDU den Grünen alles zugestehen. Deswegen wollen wir so stark werden, dass keine Regierung ohne uns gebildet werden kann.“„Auf geht‘s“, ruft Stamp am Ende, und eine Band legt los, passend zur Motivation im Raum: „Ain‘t No Mountain High Enough.“Die offizielle WahlkampfAbschlussveranstaltung der FDP ist für diesen Samstag geplant.
Es bleibt eine große humanitäre Kraftanstrengung, die geflüchteten Frauen, Kinder und alten Menschen bestmöglich zu versorgen. Aber pro Tag kommen derzeit nur noch ungefähr 2000 Geflüchtete aus der Ukraine in Deutschland an. Mitte März waren es noch 15.000 Menschen täglich. Über die polnisch-ukrainische Grenze kehren inzwischen täglich 20.000 Geflüchtete zurück in ihr Land, darunter sind auch Menschen, die aus Deutschland zurückkehren. Daran sieht man, wie groß der Wunsch zur Rückkehr ist. Viele Familien wurden zerrissen. Viele waren gezwungen, ihre Ehemänner, ihre Väter, ihre erwachsenen Söhne zurückzulassen.
Was bedeutet das für die Integration?
FAESER Ich gehe davon aus, dass die Mehrheit der Menschen wieder zurückkehren wird. Ein Teil wird bleiben, wenn die Menschen die Chance sehen, mit ihrer Qualifikation auf dem deutschen Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Die größte Herausforderung liegt momentan bei den Städten und Gemeinden in der Integration in Schulen und Kitas. Wir müssen uns immer vor Augen führen, dass 40 Prozent aller Geflüchteten Kinder sind. Für Kinder sind Alltagsstrukturen in Schulen und Kitas ungeheuer wichtig, auch um das Trauma des Krieges und der Flucht besser verarbeiten zu können.
Der Ukraine-krieg überschattet die Krise in Afghanistan. Steht die Bundesregierung nicht im Wort?
Ja, wir stehen im Wort. Gemeinsam mit meiner Ministerkollegin Annalena Baerbock lege ich gerade Kriterien fest, welche Gruppen über die Ortskräfte hinaus besonderen Schutz brauchen. Da geht es besonders um Frauen, um Menschenrechtlerinnen, Aktivistinnen oder Anwältinnen. Wir fliegen nach wie vor Menschen aus Afghanistan aus und wollen das für bedrohte Frauen verstärken. In den letzten zehn Monaten haben wir schon mehr als 20.000 Menschen aus Afghanistan in Deutschland aufgenommen.
Befürchten Sie Fluchtbewegungen aufgrund drohender Hungersnöte?
Wir müssen die weltweiten Auswirkungen dieses furchtbaren Krieges genau im Blick behalten. Putin setzt Hunger als Waffe ein. Gemeinsam mit unseren Partnern müssen wir bei Lebensmittelknappheiten gegensteuern und die Entwicklungszusammenarbeit stärken. Und als Bundesinnenministerin geht es mir gerade vor allem auch darum, den inneren Frieden zu schützen – auch vor Putins infamen Lügen. Hier sehen wir auch in anderen Teilen der Welt die Gefahr, dass die russische Kriegspropaganda verfangen und Gesellschaften destabilisieren kann. So wird Russia Today in vielen Ländern in Landessprache ausgestrahlt, zum Beispiel auf Spanisch in Südamerika. Wir müssen gezielt dagegen vorgehen, dass sich die russische Kriegspropaganda in der Welt verbreitet.
Wie groß ist die Gefahr von CyberBedrohungen?
Wir sind hier äußerst wachsam und haben die Lage bisher sehr gut im Griff. Dennoch müssen wir uns für die Zukunft gegen diese neue Gefährdungslage besser aufstellen. Cyberangriffe sind Teil der russischen Kriegsführung. Vor allem gegen die Ukraine finden sehr aggressive Cyberangriffe statt. Aber auch in Deutschland werden Systeme gezielt auf Sicherheitslücken gescannt. Deswegen verstärken wir unsere Cybersicherheit massiv. Dazu werde ich noch vor der Sommerpause ein eigenes Programm vorstellen.
Was genau schwebt Ihnen vor?
FAESER Mir ist es wichtig, das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) zu einer bundesweit führenden Behörde auszubauen. Wir müssen die Kompetenzen beim Bund konzentrieren. Cyberangriffe sind komplex und gehen über Landesgrenzen hinaus. Wir müssen das Knowhow bündeln, so wie wir es im Cyberabwehrzentrum des Bundes bereits angelegt haben. Gerade im Bereich der kritischen Infrastruktur müssen wir die Schutzmaßnahmen weiter stärken. Das reicht von Krankenhäusern bis zu Energieversorgern.
Wie geht es mit dem Aktionsplan gegen Rechts voran?
Wir zeigen, dass wir nicht nur reden, sondern tatsächlich handeln. Wir haben schon jetzt große Erfolge im Zerschlagen rechter Netzwerke, etwa mit dem harten Vorgehen gegen Nachfolgegruppen von Combat 18. Auch die mutmaßliche Terrorgruppe, die Anschläge auf unser Stromnetz und die Entführung meines Kollegen Karl Lauterbach geplant hat, haben unsere Sicherheitsbehörden sehr schnell und konsequent aufgedeckt. Besonders am Herzen liegt mir auch der verstärkte Kampf gegen Antisemitismus, wo wir erschreckende Anstiege sehen. Zudem müssen wir Kommunalpolitikerinnen und -politiker besser vor Übergriffen schützen, mit festen Ansprechpartnern bei der Polizei vor Ort und mit guten Schutzkonzepten.
Antisemitische Straftaten sind auf neuem Höchststand – warum?
Leider werden immer wieder Jüdinnen und Juden als Schuldige gesucht, selbst für die CoronaPandemie. Es ist beschämend, wie sich Corona-leugner einen gelben Stern angeheftet und den Holocaust verharmlost haben. Erschütternd ist auch, wie Islamisten mitten in Berlin judenfeindliche Parolen brüllen. Gegen antisemitische Hetze gehen wir mit konsequenter Strafverfolgung vor. Aber tiefsitzende antisemitische Feindbilder können wir nur mit frühzeitiger Präventionsund Bildungsarbeit beseitigen, das muss in Kitas und Schulen losgehen. Generell sehen wir auch: Wenn Menschen sich – wie in der Pandemie – verunsichert oder bedroht fühlen, sind sie leichter ansprechbar für extremistische Tendenzen. Ich setze auf eine starke Sozialpolitik, mit der der Staat den Menschen in unsicheren Zeiten unter die Arme greift. Und unser Rechtsstaat muss klare Grenzen aufzeigen, im analogen wie im digitalen Raum.
Wie schwer ist es, beim Kampf gegen Rechtsextremismus einen Bewusstseinswandel durchzusetzen?
Die furchtbaren rechtsterroristischen Anschläge in Halle und Hanau haben viele wachgerüttelt, die vorher die Gefahr noch nicht in dieser Dimension gesehen haben. Aber wir brauchen noch mehr Bewusstsein für Rassismus im Alltag, für Anfeindungen, die viele Menschen immer wieder erleben. Das ist mir sehr wichtig. Auch mein Vorgänger Horst Seehofer hat die Gefahr erkannt und wollte konsequenter vorgehen. Aber er konnte vieles in den eigenen Reihen von CDU und CSU nicht durchsetzen. Dort müssen sich manche noch an eine Frau mit einer klaren Haltung an der Spitze des Innenministeriums gewöhnen.
Die Schießerei in Duisburg zeigt die Gefahr durch organisierte Kriminalität und Clanstrukturen. War man hier zu lange zu blind?
Offensichtlich hat man hier lange nicht hart genug durchgegriffen. Wir brauchen eine deutlich härtere Gangart. Im Bundeskriminalamt haben wir die Bekämpfung von organisierter Kriminalität und Clankriminalität deutlich verschärft. Für mich ist ganz klar: Wir sind ein starker Rechtsstaat, der sich nicht auf der Nase herumtanzen lässt. Wir lassen keine abgeschotteten Parallelwelten zu. Ich habe den Kampf gegen organisierte Kriminalität sehr bewusst zu einem Schwerpunkt meiner Arbeit gemacht.
Was genau wollen Sie tun?
Wir müssen die Polizeipräsenz in entsprechenden Brennpunkten ausbauen und gezielt in solche Szenen hineingehen und Grenzen aufzeigen. Auch Videoüberwachung an entsprechenden Orten kann ein Mittel sein. Wir müssen kriminelle Clanstrukturen frühzeitig erkennen und zerschlagen. Ihre Finanzströme müssen wir stoppen und illegales Vermögen konsequent beschlagnahmen.