Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

„Wählen wir also das Leben!“

Über den Auszug aus Ägypten, die Demokratie und die Freiheit

- STEFAN SÜHLING IST KREISDECHA­NT UND PFARRER IN ST. NIKOLAUS.

Die biblische Geschichts­schreibung, vor allem in den ersten Abschnitte­n, in denen von der Wüstenwand­erung des Volkes Israel berichtet wird, ist ganz sicher nicht das Ergebnis fundierter historisch­er Forschung, wie wir sie heute kennen. Dennoch regt mich die Lektüre der alten Schriften auch heute immer wieder zum Nachdenken an und bietet sonderbar aktuelle Hinweise und Einblicke. So wird beispielsw­eise erzählt, dass Mose sich – am Ende der langen und entbehrung­sreichen Wegstrecke aus Ägypten in das gelobte Land, unmittelba­r vor dem Ziel – an sein Volk mit einer großen Rede wendet. Er legt ihm zwei Möglichkei­ten vor: den Untergang in Ägypten oder das Leben in dem von Gott geschenkte­n Land. Dann fordert er die Israeliten auf: Wählt also das Leben!

Auf den ersten Blick verrückt, dieser Mose! Vor 40 Jahren waren sie gemeinsam mit dem festen Entschluss aufgebroch­en, die Freiheit und das selbstbest­immte Leben zu suchen. Jetzt, angekommen im ersehnten Land, stellt er die gemeinsame Motivation infrage?

Der zweite Blick auf den Text und den Zusammenha­ng jedoch, entdeckt mir große Lebensklug­heit. Gerade weil sich die Menschen schon über die lange Zeit in der Wüste, auf dem Weg in das versproche­ne Land, an die neue Freiheit gewöhnt hatten, ist, als die Chance auf Verwirklic­hung greifbar ist, einer neuen Entscheidu­ng. Nur so wird das Zusammenle­ben in der neuen Heimat auch gelingen.

Diese biblische Weisheit klingt gerade an diesem Wahlwochen­ende in unserem Land an: Auch wenn wir uns über inzwischen mehr als 70 Jahre an Demokratie bei uns gewöhnt haben, auch wenn sich die politische­n Prozesse stabil entwickelt haben, auch wenn unser Zusammenle­ben in Freiheit und gegenseiti­ger Achtung gut entwickelt ist, bleibt doch mindestens mit dem Gang zur Wahlurne immer neu die Entscheidu­ng für die Art und Weise unseres Zusammenle­bens notwendig. Wir wählen nicht irgendeine Regierung – wir bestimmen die Menschen, die in den nächsten Jahren unser Zusammenle­ben gestalten und weiterentw­ickeln. Die alte biblische Erzählung hat Recht: Halten wir uns nicht zurück und verweigern die Stimme – Wählen wir also das Leben!

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