Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
„Wählen wir also das Leben!“
Über den Auszug aus Ägypten, die Demokratie und die Freiheit
Die biblische Geschichtsschreibung, vor allem in den ersten Abschnitten, in denen von der Wüstenwanderung des Volkes Israel berichtet wird, ist ganz sicher nicht das Ergebnis fundierter historischer Forschung, wie wir sie heute kennen. Dennoch regt mich die Lektüre der alten Schriften auch heute immer wieder zum Nachdenken an und bietet sonderbar aktuelle Hinweise und Einblicke. So wird beispielsweise erzählt, dass Mose sich – am Ende der langen und entbehrungsreichen Wegstrecke aus Ägypten in das gelobte Land, unmittelbar vor dem Ziel – an sein Volk mit einer großen Rede wendet. Er legt ihm zwei Möglichkeiten vor: den Untergang in Ägypten oder das Leben in dem von Gott geschenkten Land. Dann fordert er die Israeliten auf: Wählt also das Leben!
Auf den ersten Blick verrückt, dieser Mose! Vor 40 Jahren waren sie gemeinsam mit dem festen Entschluss aufgebrochen, die Freiheit und das selbstbestimmte Leben zu suchen. Jetzt, angekommen im ersehnten Land, stellt er die gemeinsame Motivation infrage?
Der zweite Blick auf den Text und den Zusammenhang jedoch, entdeckt mir große Lebensklugheit. Gerade weil sich die Menschen schon über die lange Zeit in der Wüste, auf dem Weg in das versprochene Land, an die neue Freiheit gewöhnt hatten, ist, als die Chance auf Verwirklichung greifbar ist, einer neuen Entscheidung. Nur so wird das Zusammenleben in der neuen Heimat auch gelingen.
Diese biblische Weisheit klingt gerade an diesem Wahlwochenende in unserem Land an: Auch wenn wir uns über inzwischen mehr als 70 Jahre an Demokratie bei uns gewöhnt haben, auch wenn sich die politischen Prozesse stabil entwickelt haben, auch wenn unser Zusammenleben in Freiheit und gegenseitiger Achtung gut entwickelt ist, bleibt doch mindestens mit dem Gang zur Wahlurne immer neu die Entscheidung für die Art und Weise unseres Zusammenlebens notwendig. Wir wählen nicht irgendeine Regierung – wir bestimmen die Menschen, die in den nächsten Jahren unser Zusammenleben gestalten und weiterentwickeln. Die alte biblische Erzählung hat Recht: Halten wir uns nicht zurück und verweigern die Stimme – Wählen wir also das Leben!