Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
„Das Leben des Einzelnen ist nichts wert“
Die Theologin und Osteuropa-expertin erklärt, warum in der russischen Bevölkerung der Protest gegen Putins Krieg nahezu ausbleibt.
Frau Elsner, die westliche Welt hat wieder einen Feind: Wladimir Putin. Aber große Teile seines Volkes stehen hinter ihm. Wie sehr muss uns das beunruhigen?
Die Vorstellung, dass Russland sich vom Westen grundsätzlich unterscheidet, sich von ihm sogar abgrenzen will, wurde ja nicht in jüngster Vergangenheit geboren, sondern ist spätestens seit dem 19. Jahrhundert in der russischen Philosophie verwurzelt. Trotzdem verbanden Anfang der 90er-jahre viele Russen durchaus große Erwartungen mit Demokratie, Zivilgesellschaft und bürgerlichen Freiheiten. Aber gerade die 1990er-jahre brachten auch große Enttäuschung über die westliche Demokratie, auch Instabilität und Verarmung, darum stimmen viele der antiwestlichen Politik Putins zu.
Was ist schiefgelaufen?
Als die Sowjetunion zerbrach, lag die Wirtschaft am Boden, die Läden waren leer, es herrschte Chaos. Mit ihrer Freiheit konnten die Leute sich nichts kaufen, und es fehlte Sicherheit. Das sitzt tief, bis heute. So tief, dass der Begriff Demokratie in Russland stark beschädigt ist. Putin hat diese Enttäuschung geschickt ausgenutzt, ebenso die russisch-orthodoxe Kirche, in deren Verständnis der Westen verkommen und der Osten heilig ist.
Die Missstände im Land sind himmelschreiend, die Kriegsgräuel erst recht. Auch ohne freie Presse gäbe es Möglichkeiten, sich zu informieren. Ist diese Sicht zu westlich?
Vieles von dem, was die Leute wirklich wissen und bewegt, bleibt verborgen, denn es wird den Menschen sehr schwer gemacht, sich kritisch zu äußern. Aber das gesamte Bildungssystem ab dem Kindergarten zielt auch darauf, kritisches Denken zu unterbinden. Die antiwestliche Propaganda ist seit Jahren omnipräsent. Außerdem bekommen Menschen, die Protest wagen – etwa die Studenten um Nawalny oder nun die Kriegsgegner – rasch zu spüren, wie brutal Opposition unterbunden wird.
Sie haben einige Jahre in Sankt Petersburg gelebt. Wie haben Sie die Menschen dort wahrgenommen?
Es ist ganz schwer, Vertrauen herzustellen, die Menschen sind extrem misstrauisch anderen gegenüber. Das hat seine Wurzeln im sowjetischen Regime und wurde von den politischen Eliten später weiter gepflegt. Jeder hat Angst, er könnte mit etwas in Verbindung gebracht werden, was ihm am Ende schadet.
Aber kennt diese erstaunliche Leidensfähigkeit keine Grenze?
Tatsächlich ist die Haltung weit verbreitet: Das ist halt so, weil es immer schon so war. Auch im Hinblick darauf, dass eine winzige Oberschicht alles besitzt und das Volk um alles kämpfen muss. Und auch hier spielt Religion eine Rolle, da sie die Opferbereitschaft der Menschen stärkt und mit dem Kampf von Gut gegen Böse rechtfertigt. Protest dagegen wird als zwecklos und obendrein zu Recht als gefährlich empfunden.
Ich sehe nicht, dass es Putin interessiert, wie sein Volk denkt oder wie es lebt. Den Eliten reicht es, dass es in den vergangenen zwei Monaten nicht zu Massenprotesten gekommen ist und sie sich deshalb in ihrem Handeln bestärkt fühlen können.
Wo bleibt der Aufschrei der Mütter der gefallenen Söhne?
ELSNER Die wenigen Proteste sind sofort erstickt worden, ganz aktuell versuchen ja auch Eltern der Soldaten auf dem gesunkenen Kriegsschiff, überhaupt Informationen über ihre Söhne zu bekommen, mit wenig Hoffnung auf Erfolg. Es existiert eine Organisation von Soldatenmüttern, die sich seit vielen Jahren für eine Verbesserung der Verhältnisse in der russischen Armee einsetzen – auch ihr Kampf ist einer gegen Windmühlen. Die Zustände in der Truppe sind wie in den Gefängnissen absolut menschenunwürdig. Dahinter steht ein System brutaler Erniedrigung, das Leben des Einzelnen ist nichts wert. Wer das versteht, setzt alles daran, dass die eigenen Söhne nicht eingezogen werden. Aber es gibt auch viele, die ihre Söhne im gerechten Kampf gegen den Faschismus sehen und den Verlust so rechtfertigen.
Dann sind die, die es trifft, völlig schutzlos?
Ja, es gibt keinen Rechtsschutz, zivilgesellschaftliche Organisationen dürfen nicht arbeiten, und die Kirche schreitet nicht ein. Im Gegenteil: Die sakrale Legitimierung von Unterordnung und Kampf spielt hier eine ganz ungute Rolle. Es fällt übrigens auf, dass die jungen Rekruten, die in den Krieg in die Ukraine geschickt werden, nicht aus Moskau oder Sankt Petersburg, sondern vor allem aus ländlichen Gebieten kommen, wo Protest unwahrscheinlicher ist und Religion und die Leidensbereitschaft, die sie verlangt, noch eine größere Rolle spielen. Die Menschen in den großen Städten, die dem Ganzen etwas kritischer gegenüberstehen, werden so mit dem Leid der Eltern von Soldaten gar nicht direkt konfrontiert.
Was könnte in Russland nach Putin kommen?
Da bin nicht nur ich sehr pessimistisch. Ein Ende der bestehenden Situation kann es nur geben, wenn Putin nicht mehr da ist und die herrschenden Machtstrukturen zerbrechen. Ich sehe aber keine politischen Kräfte, die es grundsätzlich besser machen könnten. Es wird eine langwierige und tiefgreifende Aufarbeitung von Schuld stattfinden müssen, aber es hat ja noch nicht einmal eine Aufarbeitung der stalinistischen Vergangenheit stattgefunden. Auch deshalb kann das, was jetzt geschieht, überhaupt passieren.