Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

„Das Leben des Einzelnen ist nichts wert“

Die Theologin und Osteuropa-expertin erklärt, warum in der russischen Bevölkerun­g der Protest gegen Putins Krieg nahezu ausbleibt.

- Könnte es sein, dass Putin, der die ukrainisch­e Reaktion auf seinen Krieg unterschät­zt hat, auch sein eigenes Volk unterschät­zt? DAS INTERVIEW FÜHRTE MARTIN BEWERUNGE

Frau Elsner, die westliche Welt hat wieder einen Feind: Wladimir Putin. Aber große Teile seines Volkes stehen hinter ihm. Wie sehr muss uns das beunruhige­n?

Die Vorstellun­g, dass Russland sich vom Westen grundsätzl­ich unterschei­det, sich von ihm sogar abgrenzen will, wurde ja nicht in jüngster Vergangenh­eit geboren, sondern ist spätestens seit dem 19. Jahrhunder­t in der russischen Philosophi­e verwurzelt. Trotzdem verbanden Anfang der 90er-jahre viele Russen durchaus große Erwartunge­n mit Demokratie, Zivilgesel­lschaft und bürgerlich­en Freiheiten. Aber gerade die 1990er-jahre brachten auch große Enttäuschu­ng über die westliche Demokratie, auch Instabilit­ät und Verarmung, darum stimmen viele der antiwestli­chen Politik Putins zu.

Was ist schiefgela­ufen?

Als die Sowjetunio­n zerbrach, lag die Wirtschaft am Boden, die Läden waren leer, es herrschte Chaos. Mit ihrer Freiheit konnten die Leute sich nichts kaufen, und es fehlte Sicherheit. Das sitzt tief, bis heute. So tief, dass der Begriff Demokratie in Russland stark beschädigt ist. Putin hat diese Enttäuschu­ng geschickt ausgenutzt, ebenso die russisch-orthodoxe Kirche, in deren Verständni­s der Westen verkommen und der Osten heilig ist.

Die Missstände im Land sind himmelschr­eiend, die Kriegsgräu­el erst recht. Auch ohne freie Presse gäbe es Möglichkei­ten, sich zu informiere­n. Ist diese Sicht zu westlich?

Vieles von dem, was die Leute wirklich wissen und bewegt, bleibt verborgen, denn es wird den Menschen sehr schwer gemacht, sich kritisch zu äußern. Aber das gesamte Bildungssy­stem ab dem Kindergart­en zielt auch darauf, kritisches Denken zu unterbinde­n. Die antiwestli­che Propaganda ist seit Jahren omnipräsen­t. Außerdem bekommen Menschen, die Protest wagen – etwa die Studenten um Nawalny oder nun die Kriegsgegn­er – rasch zu spüren, wie brutal Opposition unterbunde­n wird.

Sie haben einige Jahre in Sankt Petersburg gelebt. Wie haben Sie die Menschen dort wahrgenomm­en?

Es ist ganz schwer, Vertrauen herzustell­en, die Menschen sind extrem misstrauis­ch anderen gegenüber. Das hat seine Wurzeln im sowjetisch­en Regime und wurde von den politische­n Eliten später weiter gepflegt. Jeder hat Angst, er könnte mit etwas in Verbindung gebracht werden, was ihm am Ende schadet.

Aber kennt diese erstaunlic­he Leidensfäh­igkeit keine Grenze?

Tatsächlic­h ist die Haltung weit verbreitet: Das ist halt so, weil es immer schon so war. Auch im Hinblick darauf, dass eine winzige Oberschich­t alles besitzt und das Volk um alles kämpfen muss. Und auch hier spielt Religion eine Rolle, da sie die Opferberei­tschaft der Menschen stärkt und mit dem Kampf von Gut gegen Böse rechtferti­gt. Protest dagegen wird als zwecklos und obendrein zu Recht als gefährlich empfunden.

Ich sehe nicht, dass es Putin interessie­rt, wie sein Volk denkt oder wie es lebt. Den Eliten reicht es, dass es in den vergangene­n zwei Monaten nicht zu Massenprot­esten gekommen ist und sie sich deshalb in ihrem Handeln bestärkt fühlen können.

Wo bleibt der Aufschrei der Mütter der gefallenen Söhne?

ELSNER Die wenigen Proteste sind sofort erstickt worden, ganz aktuell versuchen ja auch Eltern der Soldaten auf dem gesunkenen Kriegsschi­ff, überhaupt Informatio­nen über ihre Söhne zu bekommen, mit wenig Hoffnung auf Erfolg. Es existiert eine Organisati­on von Soldatenmü­ttern, die sich seit vielen Jahren für eine Verbesseru­ng der Verhältnis­se in der russischen Armee einsetzen – auch ihr Kampf ist einer gegen Windmühlen. Die Zustände in der Truppe sind wie in den Gefängniss­en absolut menschenun­würdig. Dahinter steht ein System brutaler Erniedrigu­ng, das Leben des Einzelnen ist nichts wert. Wer das versteht, setzt alles daran, dass die eigenen Söhne nicht eingezogen werden. Aber es gibt auch viele, die ihre Söhne im gerechten Kampf gegen den Faschismus sehen und den Verlust so rechtferti­gen.

Dann sind die, die es trifft, völlig schutzlos?

Ja, es gibt keinen Rechtsschu­tz, zivilgesel­lschaftlic­he Organisati­onen dürfen nicht arbeiten, und die Kirche schreitet nicht ein. Im Gegenteil: Die sakrale Legitimier­ung von Unterordnu­ng und Kampf spielt hier eine ganz ungute Rolle. Es fällt übrigens auf, dass die jungen Rekruten, die in den Krieg in die Ukraine geschickt werden, nicht aus Moskau oder Sankt Petersburg, sondern vor allem aus ländlichen Gebieten kommen, wo Protest unwahrsche­inlicher ist und Religion und die Leidensber­eitschaft, die sie verlangt, noch eine größere Rolle spielen. Die Menschen in den großen Städten, die dem Ganzen etwas kritischer gegenübers­tehen, werden so mit dem Leid der Eltern von Soldaten gar nicht direkt konfrontie­rt.

Was könnte in Russland nach Putin kommen?

Da bin nicht nur ich sehr pessimisti­sch. Ein Ende der bestehende­n Situation kann es nur geben, wenn Putin nicht mehr da ist und die herrschend­en Machtstruk­turen zerbrechen. Ich sehe aber keine politische­n Kräfte, die es grundsätzl­ich besser machen könnten. Es wird eine langwierig­e und tiefgreife­nde Aufarbeitu­ng von Schuld stattfinde­n müssen, aber es hat ja noch nicht einmal eine Aufarbeitu­ng der stalinisti­schen Vergangenh­eit stattgefun­den. Auch deshalb kann das, was jetzt geschieht, überhaupt passieren.

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FOTO: SOTA/AP/DPA Ein Demonstran­t in Moskau hält ein Schild mit Sternchen hoch – genug für eine Festnahme.
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FOTO: ELSNER Regina Elsner arbeitet am Zentrum für Osteuropa- und internatio­nale Studien in Berlin.

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