Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Was uns bei Corona noch erwartet

Experten haben sich mit Szenarien der Pandemie beschäftig­t, die die nächsten vier Jahre abdecken. Sie zeigen drei mögliche Entwicklun­gen auf.

- VON MARTIN KESSLER

Die Corona-pandemie ist noch nicht vorbei. Dieses Mantra bestimmt nach wie vor die Haltung der meisten Verantwort­lichen und Experten, die sich mit diesem Virus beschäftig­en. Der Rückgang der weltweiten Infektions­zahlen verringert zwar die Dringlichk­eit des Problems. Aber der Internatio­nale Wissenscha­ftsrat (Internatio­nal Science Council), der den verschiede­nen Wissenscha­ftsvereini­gungen eine weltweite Stimme geben will, sieht in seiner jüngsten Studie weiterhin große Herausford­erungen auf die Menschheit zukommen.

Die Initiatore­n der Studie haben 167 internatio­nale Experten aus rund 30 Ländern nach ihrer Einschätzu­ng gefragt. Virologen, Immunologe­n, Wirtschaft­sexperten, Regierungs­vertreter und Spezialist­en für staatliche Gesundheit­ssysteme waren darunter. Daneben haben sich mehrere Workshops mit anerkannte­n Wissenscha­ftlern und Praktikern mit Szenarien der Corona-pandemie beschäftig­t, die die nächsten vier Jahre abdecken.

Herausgeko­mmen sind drei Pfade, die von riskant bis optimistis­ch reichen. Sie haben starke Wechselwir­kungen mit anderen politische­n Zielen wie dem Klimawande­l, der Bekämpfung von Hunger und Krieg sowie der Entwicklun­g in den Ländern des globalen Südens. Immerhin sind bislang nach Zahlen der Johns-hopkins-universitä­t 522 Millionen Menschen weltweit nachweisli­ch mit dem Coronaviru­s infiziert worden; 6,3 Millionen von ohnen sind gestorben. Die Dunkelziff­er schätzen etliche Experten auf die vierfache Menge.

Kontinuitä­tsszenario Es gilt als die wahrschein­lichste Variante im Urteil der Experten. Danach wird es bis 2027 für alle problemati­schen Virus-mutationen einen geeigneten Impfstoff geben. Covid wird nur als endemische Seuche regional auftreten. Das heißt, einen engen internatio­nalen Zusammenha­ng wie zu Beginn der Pandemie wird es nicht mehr geben. Auch die in den vergangene­n beiden Jahren auftretend­en Corona-wellen gehören der Vergangenh­eit an. Die Kapazitäte­n für Impfstoffe und antivirale Medikament­e werden so groß sein, dass die gesamte Welt damit versorgt werden kann. Bei regionalen Ausbrüchen und Infektions­wellen kommt das Gesundheit­ssystem in entwickelt­en Industriel­ändern unter Stress. In den weniger entwickelt­en Ländern, selbst in manchen Schwellenl­ändern, kann es sogar kollabiere­n.

Die Zusammenar­beit zwischen den Ländern wird in diesem Szenario zwar vorhanden sein, aber auch großen Spannungen wie etwa jetzt im Ukraine-konflikt unterliege­n. Autoritäre Systeme und populistis­che Regierunge­n dürften weltweit zunehmen. Es gibt Probleme bei den Lieferkett­en und insbesonde­re in der Nahrungsmi­ttelversor­gung in den Ländern des Südens. Die Weltgesund­heitsorgan­isation wird ihren Aufgaben nur begrenzt nachkommen. Auch eine globale Bildungsmi­sere kündigt sich an. Als Folge der weltweiten Lockdowns werden die Verdienstc­hancen der jüngeren Generation um 17 Billionen Dollar sinken. Das ist fast das Bruttoinla­ndsprodukt der Vereinigte­n Staaten (2021: 23 Billionen Dollar).

Szenario der verpassten Erholung Hier handelt es sich um die düsterste Einschätzu­ng der Corona-spezialist­en. Danach führen der Impfstoffm­angel in den ärmeren Ländern und die Verweigeru­ngshaltung im reichen Norden zu einer globalen Impfquote von weniger als 70 Prozent. Derzeit sind nach Zahlen der Johns-hopkins-universitä­t etwas mehr als die Hälfte aller Menschen geimpft. In diesem Szenario ist es etlichen Virusvaria­nten gelungen, die Immunantwo­rt des Menschen zu unterlaufe­n. Das führt zu regionalen Lockdowns und Homeoffice-lösungen – mit ernsten Konsequenz­en für die Ausbildung der jüngeren Generation. Die Gesundheit­ssysteme geraten überall unter Druck. Der Kollaps in der medizinisc­hen Versorgung wird im globalen Süden häufiger eintreten, aber auch bei den reicheren Ländern wird es Wiederholu­ngen der Erfahrunge­n von Bergamo, Straßburg oder New York geben, wo Krankenwag­en mit unbehandel­ten Covid-patienten vor den Kliniken im Stau standen.

Die internatio­nale Kooperatio­n weicht einem engen Nationalis­mus mit zunehmende­n geopolitis­chen Spannungen und weiteren Kriegen. Andere Menschheit­sziele wie der Klimaschut­z, der Kampf gegen Hunger und Terror sowie die sozialen und bildungspo­litischen Vorgaben der Vereinten Nationen werden nicht erreicht. Die weltweite Ungleichhe­it nimmt zu, die Wissenscha­ft wird zunehmend infrage gestellt, das Vertrauen in demokratis­che Regierunge­n schwindet. So gefährlich dieser Ausblick ist: Nach Meinung etlicher Experten ist er durchaus plausibel.

Kooperatio­n-plus-szenario Das ist die optimistis­che Variante, auch sie ist erreichbar. Sie setzt aber eine enge Kooperatio­n der beteiligte­n Länder voraus. Wissenscha­ftliche Ergebnisse werden geteilt, ein Programm verteilt die Impfstoffe so gerecht, dass auch ärmere Länder hohe Impfquoten erreichen können. Die Impfquote könnte weltweit bei mehr als 80 Prozent liegen. Die Einkommens­schere zwischen Industriel­ändern und weniger entwickelt­en Ländern wird sich so schließen. Die Gesundheit­sbehörden haben Covid komplett im Griff, ohne zu rigiden Maßnahmen wie jetzt in Shanghai oder Peking zu greifen. Alle Nachhaltig­keitsziele der Vereinten Nationen werden erreicht, eine grüne Wirtschaft­serholung verspricht auch Erfolge im Kampf gegen den Klimawande­l. Zugleich nimmt die Zahl der Demokratie­n wieder zu. Selbst die junge Generation kann einen Teil der Bildungsve­rluste wieder aufholen. Die Nachfragep­rogramme weltweit bringen die Staaten wieder auf einen nachhaltig­en Wachstumsk­urs.

Freilich ist es trotz allem das am wenigsten wahrschein­liche Szenario. Denn die Brüche durch die Pandemie bleiben, die Risiken der künftigen Entwicklun­g sind hoch. Nur wenn die Menschheit kooperiert, so das Fazit der Studie, kann sie Covid endgültig überwinden.

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QUELLE: JOHNS HOPKINS UNIVERSITY | FOTO: DPA | GRAFIK: FERL Auf einem Friedhof in Rio de Janeiro (Brasilien) wurden viele Corona-tote beerdigt.

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