Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Verfahrene Lage
Das nun schon fast zwei Wochen anhaltende Tauziehen um den Rückzug aus russischem Öl ist nicht die einzige Bruchstelle in Brüssel.
Sprache kann verräterisch sein. „Gemeinsam vorbereiten“werde die EU das Öl-embargo gegen Russland, sagt die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock am Montag am Rande des Treffens mit ihren Eu-amtskollegen, damit die Gemeinschaft diesen Schritt „gemeinsam gehen“und bald auch zu einem „gemeinsamen Ergebnis“kommen könne. Mehr als ein Dutzend Mal bringt sie das Wort in ihren wenigen Sätzen unter. Sie gibt sich zuversichtlich, dass es in den nächsten Tagen mit der Gemeinsamkeit klappen könne. So als wolle sie da etwas beschwören, was es nicht gibt. Wenige Minuten vorher ist ihrem litauischen Kollegen Gabrielius Landsbergis bereits der Kragen geplatzt. Da werde „leider die gesamte EU in Geiselhaft genommen durch einen Mitgliedsstaat“, sagt er, ohne Ungarn zu nennen. Doch der Chef der Grünen im Europa-parlament, Rasmus Andresen, kann kurz darauf auch nicht mehr anders, als „dann eben ohne Ungarn“in den Ring zu werfen.
Das nun schon fast zwei Wochen anhaltende Tauziehen um den Rückzug aus russischem Öl ist nicht die einzige Bruchstelle in der vom Eu-außenbeauftragten Josep Borrell am Montag erneut verkündeten „vereinigten Front gegen die russische Aggression“. Baerbock kommt vom Nato-außenministertreffen in Berlin, wo das Verteidigungsbündnis mit türkischen Forderungen als Bedingung für eine Aufnahme Finnlands und Schwedens umzugehen hatte, ohne eine Lösung zu finden. Keine 24 Stunden später wird in Brüssel mit harten Bandagen ums Öl gekämpft.
Dabei hatte Eu-kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am 4. Mai bereits Ausnahmen für
Ungarn eingebaut, als sie die Vorschläge für das sechste Sanktionspaket auf den Tisch legte. Binnen sechs Monaten alle raus aus russischem Rohöl, bis zum Jahresende alle raus auch aus russischen ÖlProdukten – mit Ausnahme von Ungarn und Tschechien. Um die Einheit hinzubekommen, ist beiden Ländern inzwischen eine um zwei Jahre verlängerte Frist eingeräumt worden. Es reicht ihnen immer noch nicht. Dem Vernehmen nach will Budapest fünf Jahre länger Öl aus Russland beziehen; außerdem Milliarden aus Brüssel, um neue Pipeline-verbindungen zu bauen.
Auf 195 Milliarden Euro Investitionsbedarf schätzt die Kommission allein den Bedarf für einen schnelleren und stärkeren Ausbau der erneuerbaren Energien zum nachhaltigen Ausstieg aus Kohle, Öl und Gas insgesamt in Europa. Entsprechende Nachschärfungen an den Klimaschutzvorhaben will die Union am Mittwoch vorlegen. Allerdings ist der groß angelegte Ausbau von Sonnenkollektoren, Wärmepumpen und Windrädern wenig geeignet, schon binnen weniger Monate den Öl-hunger des Westens zu verkleinern. Entsprechend wächst die Nervosität und das Ausrechnen nationaler Nachteile durch das Drehen an immer mehr Sanktionsschrauben.
Malta, Zypern und Griechenland haben es bereits geschafft, eine weitere Sanktion aus dem sechsten Paket zu streichen. Das Verbot von Schiffstransporten mit russischem Öl wird es vorerst nicht geben. Alle drei Länder sehen ihre großen Tankerflotten bedroht und malen sich aus, dass Konkurrenztanker aus anderen Ländern Nutznießer sein könnten. Nun soll es noch eine Runde über die G7-staaten geben, um diesen Wettbewerbsverzerrungen zu begegnen. Schwer tut sich allerdings auch eine ganze Reihe anderer Eu-länder mit dem Gedanken, dass das billige russische Öl jetzt noch mehr als fünf Jahre durch die „Freundschaft 2“-Pipeline nach Ungarn fließen könnte – verbunden mit der Versuchung, den ungarischen Firmen einen Vorteil durch günstigere Energie zu verschaffen oder