Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
„Es gibt in Diktaturen keine Wahrheit“
Für die Literaturnobelpreisträgerin steht fest, dass sich Russland nur ändern kann, wenn Wladimir Putins Herrschaft ihr Ende findet.
Frau Müller, Ihr erster Prosaband „Niederungen“ist eine Chronik der Unterdrückung und Angst in Rumänien, das zu dieser Zeit unter einer Diktatur steht. Kehren diese Erfahrungen oder Erinnerungen mit dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine zurück?
Menschen, die aus Osteuropa kommen, nehmen die aktuelle Situation ganz anders wahr. Für mich hat sich eigentlich nicht so viel geändert, weil es mich eben nicht zum ersten Mal erwischt. Ich bin in den 50er-jahren geboren, und ganz Osteuropa war natürlich unter russischer Besatzung. Die russischen Soldaten, die wir jeden Tag sahen, waren ja nicht als Touristen oder als Freunde gekommen. Alle Repressionsapparate in diesen Ländern wurden in Moskau ausgebildet. Die Gefängnisse waren voll, die Lager waren voll, und überall herrschte Angst. Es gab haufenweise Parteifunktionäre zur Überwachung, selbst in dem kleinen Dorf, aus dem ich kam.
Eine Bedrohung, die nicht bis in den Westen reichte.
Das stimmt. Der Westen hat das so gut wie gar nicht wahrgenommen. Es wird ja oft von 70 Jahren Frieden in Europa gesprochen. Was in den Gesellschaften Osteuropas geschah, hat den Westen nicht wirklich interessiert. Individuelle Freiheit gab es erst nach dem Fall der Mauer. Bis dahin wurde Individualismus im Osten verachtet. Ich wurde in Rumänien mehrmals aus der Schule entlassen wegen Individualismus. Das war der Feind des Kollektivs. Westdeutsche haben sich in dieser Zeit besser in Neapel ausgekannt als in Ostberlin oder Cottbus. Die geografische Nähe zu Ostdeutschland war eine politische Ferne.
Ihre Familiengeschichte überschneidet sich mit dem, was derzeit in der Ukraine geschieht. Ihre Mutter wurde 1945 in die Ukraine zur Zwangsarbeit deportiert.
…und mit Oskar Pastior bin ich dann zur Recherche wiederum in die Ukraine, ins Donbass, gereist. Das war alles Russland, aber selbst nach der Unabhängigkeit haben wir die Ukraine doch nie wirklich als selbstständige Ukraine wahrgenommen.
War es eine Art Friedensillusion, in die sich der Westen flüchtete?
Ich würde nicht von einer Illusion reden, denn für den Westen war es ja eine Realität. Ich halte es für normal, dass man unangenehme Dinge nicht wahrnimmt, wenn sie einen nicht betreffen. Wenn einem die Probleme nicht im Nacken sitzen, ist das politische Interesse in der Regel gering. In Diktaturen ist das politische Interesse auch nicht größer, aber es wird einem aufgezwungen, wegen der vielen Verbote. Jede Übertretung hat Folgen. Jede Diktatur braucht immer auch innenpolitische Feinde, um sich aufrechtzuhalten. Darum wird immer dort, wo sich nur die kleinste Lücke zeigt, sofort ein neues Gesetz beschlossen. Was sich der Westen nur schwer vorstellen kann: Es gibt in Diktaturen keine Wahrheit!
Und Putin ist dann der, der bestimmt, was wahr ist?
Putin hat die ganze Gesellschaft von Beginn an nur auf Krieg ausgerichtet: die Schulen, die abstoßende Hetze in der Erziehung, die Benennung von Parks, die neuen Denkmäler, dieser ganz aggressive Patriotismus. Und das läuft schon Jahre so. Das hat er ja nicht gemacht, um mit seinen Nachbarn auf Augenhöhe zu leben. Das Verstörende ist doch, dass Putin ein KGB-MANN geblieben ist, ein Geheimdienstspezialist, der als Staatsmann eine Geheimdienstregierung geschaffen hat. Putin hat sein Umfeld so oft gesäubert, bis nur noch Geheimdienstler an den Hebeln der Macht waren.
Die Macht des Geheimdienstes haben Sie in Rumänien selbst erleiden müssen.
Meine ganze Wohnung damals war verwanzt, was ich später aus den Akten erst erfahren habe. Dabei kam ich mir doch gar nicht so wichtig vor. Denn was hätte ich schon tun können gegen ein Regime? Das war ein Zeichen von Hysterie. Am Ende sind Diktaturen besessen von der Kontrolle und zerstören sich schließlich selbst dadurch. Das macht Putin jetzt hoffentlich auch. Der Wahnsinn wird so groß, dass er selbstzerstörerisch wirkt. Am Ende ist im Umfeld des Diktators niemand mehr, der kompetent ist. Es sind nur noch die Getreuen da, die Vasallen, die bedingungslos Abhängigen und Erniedrigten.
Ich glaube, dass wir gedanklich dazu nicht mehr bereit sind. Dafür ist inzwischen zu viel passiert. Mit Putin gibt es keine Zukunft mehr. Leichen sind für Putin das Gewöhnliche. Wenn er andere tötet, wird er stärker. Er hat sich mit nichts anderem beschäftigt als mit Kriegen – in Tschetschenien, Syrien, Georgien, auf der Krim und im Donbass. Wenn Russland sich ändern soll, dann muss Putins Diktatur weg. Anders geht es nicht. Die Ukraine muss nicht nur gewinnen, wie es in Deutschland dezent waghalsig heißt; nein: Ich hoffe, die Ukraine kann so siegen, dass man auch in Russland die Kriegsverbrechen der eigenen Armee nicht mehr leugnen kann und erkennt, dass die Verantwortlichen vor ein Kriegsverbrechertribunal gehören.
Eine militärische Unterstützung der Ukraine durch Deutschland – auch mit schweren Waffen – ist für Sie persönlich dann keine Frage mehr?
Selbstverständlich. Sollen wir hier weiterleben, während wenige Tausend Kilometer entfernt eine Bevölkerung ausgelöscht wird? Kann uns das egal sein? Mich verstört diese
Hilflosigkeit, in der wir sind. Darum müssen wir die Menschen in der Ukraine mit allen Mitteln unterstützen. Sie haben doch nur ein Land. Wir haben hier eine Demokratie. Und die Ukraine will nichts anderes, als ebenfalls demokratisch zu leben. Es kann doch nicht sein, dass wir Putin dieses Land einfach überlassen und das Völkerrecht nichts mehr zählt. Und, Entschuldigung: Deutschland sollte auch daran denken, dass ihm früher auch die DDR gehörte und er versuchen könnte, sich diese ebenfalls zurückzuholen. Wenn man alle Reden Putins zusammennimmt, ist das ein Konglomerat geopolitischen Wahnsinns.
Welche Rolle soll konkret Deutschland einnehmen?
Deutschland sollte nicht so viel reden, sondern Waffen liefern. Es ist Krieg. Es muss gehandelt werden. Wir können uns doch nicht von einem wahnsinnig gewordenen Diktator erpressen lassen! Wenn wir Putin jetzt nicht in die Schranken weisen, werden wir für nichts mehr garantieren, was wir für uns selbstverständlich in Anspruch nehmen. Wozu haben wir denn Waffen, wenn eine ganze Bevölkerung niedergemetzelt wird und wir nur zuschauen? Mit diesem Krieg muss Putin sein eigenes Ende eingeleitet haben.
Spiegelt sich diese brüchig gewordene Welt eigentlich auch in Ihrer Arbeit wider? Seit Längerem schaffen Sie aus Zeitungsschnipseln Wortcollagen.
Ich weiß nicht. Zumindest: Wäre ich nicht aus diesem Lebenszusammenhang der Diktatur gekommen, hätte ich vermutlich nie mit Collagen begonnen. In meinem Lebenslauf finden sich auch viele zerbrochene, zerschnittene Sachen. Es ist das Gegenteil von Zensur, weil ich viele Wörter zu Hause sammeln kann, die ich früher verstecken musste, wenn wieder eine Hausdurchsuchung war. Dass das für mich selbstverständlich wurde, ist für mich noch immer eine Erweiterung von Freiheit. Für mich ist Freiheit stets sehr konkret. Entweder ist sie da, oder sie fehlt. Man kann sich in Deutschland kaum vorstellen, wie erniedrigend eine Diktatur ist. Das macht mich so wütend.