Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Grünkonser­vativ

ANALYSE Zweckbündn­is oder neue Strömung? In Nordrhein-westfalen stehen die Zeichen auf Schwarz- Grün. Das dazu passende soziale Milieu gibt es schon länger. Doch bringt die neue Allianz auch Gefahren mit sich.

- VON DOROTHEE KRINGS

Manchmal ist der Wähler schon zwei Schritte weiter als die Politik. Das Ergebnis der Landtagswa­hl in Nordrhein-westfalen führt nun jedenfalls zwei politische Lager zueinander, die in vielen Punkten höchst unterschie­dlich gestimmt sind. Doch übt die Option Schwarz-grün schon länger eine Faszinatio­n aus, vielleicht weil sie vereint, was manche für einzig zukunftstr­ächtig halten: Wirtschaft­sdenken und ökologisch­e

Verantwort­ung, Wertebestä­ndigkeit und Umweltverp­flichtung, Leistungse­instellung und Aufbruchse­nergie. Man könnte auch sagen: den Willen zum Wandel, um zu bewahren. Man kann das als grünen Slogan lesen. Oder als zeitgemäße Definition von Konservati­smus.

Natürlich gibt es in der praktische­n Politik genug, was Anhänger der Union und grüne Basis trennt. Da muss man gar nicht drastische Beispiele wie den Hambacher Forst bemühen, wo Prinzipien wie Vertragstr­eue und Eigentumsr­echt auf entschiede­nes Eintreten für die Natur stoßen. Beide Lager sind ausdiffere­nzierter als die Labels, die sie bedienen. Und konservati­ve Prinzipien wie Maß und Mitte zu halten, auf den langen Atem der Geschichte zu bauen und im Staat vor allem den Hüter der Ordnung zu sehen, passen oft nicht zu grünem Drängen auf staatlich geförderte Veränderun­g, auf radikale Alternativ­en und Umdenken aus Sorge vor Katastroph­en. Und natürlich konkurrier­en beide Parteien in allen Politikfel­dern. Gerade wenn es konkret etwa um sozialen Wohnungsba­u, Schulsyste­m, Absicherun­g armer Menschen oder Steuern geht, gibt es große Differenze­n.

Trotzdem passt da etwas. Das zeigte sich etwa in der Reaktion vieler Wirtschaft­svertreter auf die Zugewinne der Grünen am Sonntag. Da war nicht mehr von Angst vor grüner Regelwut und der Abschrecku­ng von Investoren die Rede. Vielmehr gab es Anerkennun­g. Die Energiewen­de, ein grünes Anliegen von Beginn an, ist gerade das brennendst­e Thema für viele Unternehme­n. Aktuelle Krisen haben für Annäherung gesorgt. Auf Bundeseben­e verköpert das der grüne Wirtschaft­s- und Klimaminis­ter Robert Habeck. Er gehört zu den beliebtest­en Politikern der Republik.

Außerdem ist ein ökologisch­er Lebensstil – oder einer, der sich dafür ausgibt – genauso im Mainstream angekommen wie BioSupermä­rkte in den deutschen Fußgängerz­onen. Längst bestellen FreieFahrt-für-freie-bürger-typen Elektroaut­os, schrauben sich Fotovoltai­k aufs Dach und legen einen Veggietag ein. Und natürlich gibt es eine grüne Klientel, die Retro-kinderwage­n genauso schick findet wie Familie Wüst und froh ist, dass das mittelstän­dische Unternehme­rtum in der deutschen Provinz die Wirtschaft am Laufen hält. Gern mit nachhaltig­en Produkten. SchwarzGrü­n, das ist auf jeden Fall ein RealoProje­kt – für beide Seiten.

Damit ist es auch ein Projekt der gesellscha­ftlichen Mitte. Das ist gut für Mehrheiten. Doch zugleich beschert es den Partnern Profilieru­ngsschwier­igkeiten und lässt Positionen an den Rändern der Parteien unbesetzt. Das ist ein schwerwieg­endes Problem für das demokratis­che System. Denn es sorgt dafür, dass sich Menschen mit radikalere­n Positionen oder Menschen, deren Lebenswirk­lichkeit wenig mit dem liberal-konservati­v-grünen Milieu zu tun hat, sich nicht mehr repräsenti­ert fühlen, links wie rechts.

Das äußert sich allerdings oft erst einmal gar nicht und wird darum leicht übersehen, wenn sich neue Allianzen finden und die Aufbruchse­uphorie groß ist. Das Repräsenta­tionsdefiz­it tritt aber zutage, wenn Anlässe wie die Pandemie Menschen doch auf die Straße treiben und sie dort nicht nur Thesen äußern, die zeigen, wie sehr sich der Umgang mit Medien gewandelt hat. Wie zersplitte­rt die Öffentlich­keit ist, wie abgeschott­et voneinande­r die sozialen Milieus. In Protesten, die sonst eher Unbeteilig­te auf die Straße bringen, kommt auch der Verdruss an Politik generell zum Ausdruck. Der Vertrauens­verlust. Manchmal auch blanker Hass.

Die Demos gegen die Corona-politik haben das vor Augen geführt. Sie haben viele erschreckt, die Deutschlan­d weit entfernt wähnten von Verhältnis­sen wie in Großbritan­nien oder gar den USA, wo die breite Abwendung von Politik extreme politische Konsequenz­en gezeitigt hat. Doch hat das Erschrecke­n bei den politische­n Akteuren jedenfalls nicht dazu geführt, dass sie ihre Mittelkurs­e aufgeben und ihr Heil in der Profilieru­ng suchen. Dabei zeigt die bestürzend niedrige Wahlbeteil­igung in NRW von 55,5 Prozent, dass es eine satte Mehrheit gibt, die nicht mal mehr protestwäh­len geht. Die Nichtwähle­r hätten die Wahl gewonnen, heißt es dann. Die Demokratie hat sie jedenfalls verloren.

Derweil formieren sich in der Mitte also neue Milieus, alte Gräben verwehen, neue Differenze­n zeichnen sich ab – quer zu den traditione­llen Parteilini­en. Etwa die zwischen Immobilien­besitzern und Mietern, Erben und Nichterben, digitalen Netzwerker­n und Fake-news-driftern, Anywheres und Somewheres. Es wird für neue Parteienbü­ndnisse auch darauf ankommen, diese Bewegungen zu spiegeln, ihre Fragen aufzugreif­en, Antworten zu bieten. Und keine Gruppe abzuschrei­ben.

Auch wird die Zukunft neue Fragen dringlich machen. Überpartei­lich und vermutlich unerbittli­cher als in vergangene­n Jahrzehnte­n. Etwa die nach Verzicht. Zugleich habe sich in der Öffentlich­keit eine fatale Abwehr gegen Transforma­tion und Einschränk­ungen entwickelt, schreibt der Berliner Ökonom und Politikwis­senschaftl­er Philipp Lepenies. Daran muss sich ein Grünkonser­vatismus bewähren.

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