Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

„Keine Ewigkeitsg­arantie für die Demokratie“

Viele Menschen glauben, dass keine Partei ihre Interessen vertritt. Die Politologi­n von der Uni Siegen sieht ein Problem bei politische­r Bildung und sagt: Wählen wird vererbt.

- Wäre eine Wahlpflich­t sinnvoll, um die Leute an die Urnen zu bringen? FOTO: BEA ROTH SINA ZEHRFELD FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

Frau Borucki, wie demokratie­zersetzend ist es, wenn gerade mal gut die Hälfte der Wahlberech­tigten zur Wahl geht? Bei der Landtagswa­hl waren es 55,5 Prozent.

Das ist sehr bedenklich, weil nicht mehr davon gesprochen werden kann, dass die Bevölkerun­g als Gesamtheit zur Wahl gegangen ist. Es gibt immer einen gewissen Prozentsat­z an Menschen, die prinzipiel­l nie wählen und die grundsätzl­ich für Politik nicht erreichbar sind. Die sind vielleicht nicht mal gefrustet von der Politik – sie interessie­ren sich einfach nicht. Das ist ein Problem. Aber ein vielleicht noch größeres Problem ist die Gruppe derjenigen, die früher an Wahlen teilgenomm­en haben und jetzt nicht mehr hingegange­n sind – weil sie unzufriede­n sind mit der Arbeit der Landesregi­erung, unzufriede­n generell mit Parteien, und weil ihnen das politische Angebot, das ihnen gemacht wird, nicht passt.

Sollte nicht gerade Unzufriede­nheit eine Motivation sein, wählen zu gehen, um etwas zu ändern? Warum funktionie­rt das so nicht?

Das wissen wir ehrlicherw­eise nicht. Es wäre auch für uns als Politikwis­senschaftl­er sehr spannend, das herauszufi­nden. Es gibt eine Nachwahlbe­fragung nach der Bundestags­wahl. Demnach sagten Nichtwähle­r am häufigsten: „Es gibt keine Partei, die meine Interessen vertritt.“Der zweithäufi­gste Grund war, dass die Kanzlerkan­didaten nicht überzeugt hätten. Erst weit hinten kam: „Ich wollte den Parteien einen Denkzettel verpassen“oder „Die Wahl war nicht wichtig genug“.

Keine Partei vertritt irgendjema­ndes Interessen zu 100 Prozent, und es kommt nicht nur auf Kandidaten an. Haben die Menschen illusorisc­he Erwartunge­n an Politik?

BORUCKI Ich fürchte, dass wir da ein Problem mit der politische­n Bildung haben. Ich will es nicht verniedlic­hen und sagen: Wir brauchen im öffentlich-rechtliche­n Rundfunk die Sendung mit der Maus für Erwachsene, die die Politik und die Wahlen erklärt. Aber bis zwei Wochen vor der Landtagswa­hl wussten viele Menschen noch nicht mal, dass sie überhaupt ansteht. Da gibt es noch Luft nach oben.

Warum wählen gerade jüngere Leute weniger? Wir erleben doch eigentlich eine sehr motivierte Generation, etwa bei Fridays for Future und Jugendorga­nisationen von Parteien.

BORUCKI Wählen wird vererbt. Je nachdem, aus welchem sozialen Kontext man kommt, hat man das nicht unbedingt gelernt. Wir haben eine starke Individual­isierung in der Gesellscha­ft, und Rituale vom Wahlsonnta­g – erst in die Kirche, dann ins Wahllokal – spielen keine große Rolle mehr. Was auch reinspielt, ist der veränderte Medienkons­um:

Die jüngere Generation geht morgens nicht an den Briefkaste­n und holt als Erstes die Tageszeitu­ng raus wie ihre Eltern und Großeltern. Die Jungen sehe ich aber in der Gruppe derjenigen, die für die Politik noch einzufange­n sind. Bei der Bundestags­wahl haben viele von ihnen ja auch FDP und

Grüne gewählt: Es ist also offenbar nicht so, dass es kein

Angebot für sie gäbe.

Auch benachteil­igte Bevölkerun­gsgruppen gehen weniger wählen.

BORUCKI Wir hatten im

Grunde schon immer das

Problem, dass besser gebildete und besser verdienend­e Menschen sich eher politisch beteiligen. Aber in den vergangene­n Jahren hat sich diese Spaltung noch stärker herausgebi­ldet.

Gibt es da einen Teufelskre­is: Einige Bevölkerun­gsgruppen wählen weniger, bringen weniger Vertreter ihrer Anliegen ins Parlament, haben den Eindruck: Es bringt alles nichts, und die politische Motivation sinkt weiter?

BORUCKI Definitiv ist so eine Abwärtsspi­rale denkbar. Und demokratis­che Parteien und Institutio­nen müssen jetzt schauen, wie man gegensteue­rn kann. Denn die Demokratie ist nicht selbstvers­tändlich. Es gibt keine Ewigkeitsg­arantie für die

Demokratie.

Was müssen die Parteien tun?

BORUCKI Auf die Straßen und zu den Menschen gehen. Sie müssen versuchen, das Gefühl abzubauen, dass Politik abgehoben und von den Menschen weit weg ist. Aber wie sollen Politiker bei dem ohnehin schon massiv stressigen und fordernden Alltag, den sie haben, das auch noch wuppen?

Es versuchen ja auch alle Parteien – aber vor allem in der Zeit des Wahlkampfe­s…

BORUCKI Da kann man vielleicht die Menschen mobilisier­en, die bereits im eigenen Lager unterwegs sind, aber nicht Desinteres­sierte, Frustriert­e und Enttäuscht­e. Für die ist das genau der falsche Weg. Die wissen ja: Dieser Politiker klingelt jetzt nur bei mir, weil Wahlkampf ist – der würde das sonst nie machen.

BORUCKI In Australien gibt es eine, und da gibt es extrem viele Korruption­sskandale und große Unzufriede­nheit mit dem System, das macht es also auch nicht viel besser. Eine Wahlpflich­t würde das grundlegen­de Problem der Enttäuschu­ng über Politik nicht lösen.

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