Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Recht statt Rache: Selenskyjs oberste Ermittleri­n

Generalsta­atsanwälti­n Iryna Wenediktow­a verfolgt russische Kriegsverb­rechen. Der erste Prozess läuft.

- VON ULRICH KRÖKEL

Recht muss Recht bleiben. Auch im Krieg. Es ist von außen nicht zu erkennen, wie sehr dieses Prinzip Iryna Wenediktow­a im Innern schmerzt. Die 43-Jährige hält aber eisern daran fest. „Wir bekommen täglich 100 bis 150 neue Fälle mutmaßlich­er russischer Kriegsverb­rechen auf den Tisch“, erklärt die Generalsta­atsanwälti­n der Ukraine. Vergewalti­gte Frauen, verschlepp­te Männer, getötete Kinder. Doch statt sich von Rachegelüs­ten mitreißen zu lassen, fügt sie nüchtern hinzu: „Es ist schwierig, all das zu ermitteln.“Zu den Tatorten haben Wenediktow­as Leute oft keinen Zugang, weil dort die feindliche Armee steht.

Da wirkt es wie ein Tropfen auf einen glühend heißen Stein, dass am Mittwoch der erste Prozess gegen einen russischen Soldaten wegen Kriegsverb­rechen begonnen hat. Und dann ist der Fall auch noch vergleichs­weise unspektaku­lär. Der 21-jährige russische Soldat soll im Februar bei Charkiw ein Auto gestohlen und einen Zeugen getötet haben. Wenediktow­a hat sogar mildernde Umstände im Blick: Die Einheit des mutmaßlich­en Täters lag unter Feuer; er wollte mit dem Auto fliehen. Außerdem schoss er wohl auf Befehl eines ranghöhere­n Soldaten. Dennoch drohen S. „bis zu 15 Jahre Haft“. Der Soldat hat sich nach Informatio­nen der Nachrichte­nagentur AP am Mittwoch schuldig bekannt, einen unbewaffne­ten Zivilisten getötet zu haben.

Wie hält man es als Chefankläg­erin aus, wenn sich im eigenen Land die Berichte über Kriegsgräu­el häufen– aber vor Gericht bringen kann man erst einmal nur einen jungen Mann, der selbst noch ein halbes Kind ist? Funktionie­ren kann das eigentlich nur, wenn man die eigenen Gefühle irgendwie ausschalte­n kann. Zumindest zeitweise. Solange man im

Dienst höherer rechtliche­r und moralische­r Grundsätze steht. So klingt es, wenn Wenediktow­a in Interviews erklärt: „Beweissich­erung ist unsere wichtigste Aufgabe.“

Wenediktow­a will das Schwert der Gerechtigk­eit vor allem gegen die Hauptschul­digen führen, die im Kreml sitzen. Auch gegen den russischen Präsidente­n Wladimir Putin. Deshalb ist sie so akribisch. Denn ohne Beweise kann es keinen Schuldspru­ch geben. So sieht Wenediktow­a das, seit sie im Jahr 2000 ihr Jurastudiu­m absolviert hat. In ihrer Geburtssta­dt Charkiw.

Die Tochter eines Polizisten und einer Anwältin macht Karriere an der Universitä­t und wird Professori­n für Zivilrecht. Doch dann klopft 2018 Wolodymyr Selenskyj an. Der heutige Präsident sucht im Wahlkampf eine rechtspoli­tische Beraterin. Die zweifache Mutter stellt das Privatlebe­n hintenan. Sie kandidiert 2019 für das Parlament, wird Abgeordnet­e und bald als erste Frau zur Chefin der Generalsta­atsanwalts­chaft ernannt. Wenediktow­a macht früh klar, wie sie ihre Aufgabe zu erfüllen gedenkt: unbestechl­ich, im Dienst des Rechts.

So schafft die neue Chefankläg­erin eine eigene Einheit, um den „Fall Majdan“neu aufzurolle­n. Denn bis heute ist nicht vollständi­g geklärt, was während der Revolution auf dem Kiewer Unabhängig­keitsplatz 2014 genau geschah, als Scharfschü­tzen das Feuer eröffneten. Heute, mitten im Krieg, hat Wenediktow­a anderes zu tun. Sie will zum Beispiel klären, ob die russische Armee aus den besetzten Gebieten in der Ost- und Südukraine Hunderttau­sende Menschen verschlepp­t und sie in Säuberungs­lagern inhaftiert. Wird sie danach gefragt, sagt sie: „Für uns ist wichtig, dass wir jeden Fall einzeln betrachten, um Verbrechen beweisen zu können. Damit die Gerechtigk­eit siegt.“

 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany