Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
„Wir haben gegen jede Regel verstoßen“
Der Moerser Apotheker hat die Pandemie aus nächster Nähe erlebt. Er übt Kritik an der Verwaltung, spricht über Bedrohungen von Neonazis – und sein neues Buch.
Herr Krivec, die vergangenen zwei Jahre waren sehr intensiv. Wie haben Sie sich in dieser Zeit verändert?
KRIVEC Ich sehe mehr das große Ganze. Die Pandemie hat gezeigt, dass man mit guten Ideen und Fleiß auch erfolgreich sein kann. Am Ende ist man aber immer auch auf das Umfeld angewiesen. Darüber hinaus bin ich insgesamt deutlich gelassener geworden. Wir sind in unserem Unternehmen 200 Mitarbeiter. Hier sind schnelle Entscheidungen gefragt. Denn vieles musste und muss in der Pandemie ohne großes Nachdenken entschieden werden. Diese Eigenschaft, schnell und pragmatisch zu handeln, kam mir hier zugute. Soll man auf den Kopf hören? Auf den Bauch? Ich habe gelernt, dass es in der Mehrzahl der Fälle richtig ist, einfach zu machen, sich auf das Bauchgefühl zu verlassen.
Es war eine sehr anstrengende Zeit.
KRIVEC Für unsere Apotheke, meine Mitarbeiter und mich gilt: Wir hatten fast zwei Jahre keinen Urlaub, haben sieben Tage die Woche durchgearbeitet. Ich selbst war und bin für meine Mitarbeiter rund um die Uhr erreichbar. Das erste Telefonat um 5 Uhr in der Frühe, das letzte nach Mitternacht. Und was verrückt ist: Ich war bisher nicht coronapositiv, trotz der unzähligen Kontakte.
In der Pandemie haben viele einen neuen, anderen Kontakt zum Staat gehabt. Hat sich Ihr Blick in dieser Zeit auf die Verwaltung geändert? Sind Sie ein Stück desillusioniert worden?
KRIVEC An zwei, drei Stellen hätte ich mir ein anderes Verhalten gewünscht. In der Anfangszeit war es ein reines Regelungschaos. Ich kann das an einem typischen Beispiel festmachen.
Gerne.
KRIVEC Die Quarantäneregeln. Wir hätten im Betrieb gerne von Beginn an eine einheitliche Regel dafür aufgestellt. Das war aber nicht möglich, weil die Regeln vom Wohnort des Mitarbeiters abhingen. Wir sind ein großer Betrieb, unsere Mitarbeiter kommen aus verschiedenen Kreisen und Städten. Da hatten wir ein großes Problem. Die Abstimmung hat nicht funktioniert.
Was hätten Sie sich noch anders gewünscht?
KRIVEC Dass die Ressorts Gesundheit und Bildung Ländersache sind, war in dieser Pandemie schwierig. Was ich hier immer vermisst habe, war eine rote Linie, ein stringenter Fahrplan seitens der Politik. Und dass dieser auch länger Bestand hat als nur wenige Tage. Selbst die Kommunen haben teilweise als letzte von Neuerungen erfahren. In den Apotheken liegt der Frauenanteil der Beschäftigten bei über 90 Prozent. Als kritische Infrastruktur konnte ich auf niemanden verzichten. Der Umgang mit Schul- und Kitaschließungen hat mich schockiert. Als Unternehmer muss man dann Lösungen finden. Wir haben daher über Nacht eine temporäre Betriebs-kita installiert. Grundsätzlich hat die Kommunikation völlig versagt. Das ist meiner Meinung nach auch ein Grund für die große Frustration in Teilen der Bevölkerung.
Wie als Jens Spahn mittags den Stopp der Astrazeneca-impfungen angekündigt hat?
KRIVEC Es war ein Desaster. Da wurde so viel Unsicherheit geschürt in der Bevölkerung. Diesen Vertrauensverlust macht keine gutgemeinte Ansprache wieder gut.
Das war ein ziemliches Hin und Her.
KRIVEC Das war abstrus! Meine Laborleiterin rief mich an dem Tag an und fragte, ob ich schon von dem Stopp gehört hätte. Hatte ich nicht. Ich habe dann den Leiter des Impfzentrums angerufen, um ihm das zu sagen. Die hatten vor Ort ja Besseres zu tun, als permanent die Nachrichten zu verfolgen. Er antwortete mir: Ich habe nichts schriftlich vorliegen. Daher kann ich nichts stoppen.
Aber die Bürger haben ja gehört, was Spahn gesagt hat.
KRIVEC Es hat sich sehr schnell verbreitet, ja. Die Leute haben vor dem Impfzentrum auf ihre Spritze gewartet und das dabei auf dem Handy gelesen. Und betreten das Impfzentrum mit einem aktuelleren Wissensstand, als die Mitarbeiter ihn haben können.
Und sie wollten den Impfstoff nicht mehr haben?
KRIVEC Im Impfzentrum galt immer die Regel: Die Menschen bekommen das, wofür sie vorgesehen sind. Und wer das nicht haben will, kann wieder gehen. An dem Tag wollten die Impflinge kein Astrazeneca mehr. Der Impfarzt wollte sie nach Hause schicken, wurde dann aber über die Smartwatch des Impflings über Spahns Aussagen aufgeklärt. Das ist Realsatire.
Absurd, ja.
KRIVEC Und was passiert dann? Dann heißt es, im Impfzentrum haben sie alle keine Ahnung. Die ganzen Ehrenamtlichen werden als Deppen hingestellt, dabei kommt der Fehler von ganz oben. Jens Spahn wusste sicher schon morgens, bevor die Impfzentren öffnen, dass er das verbieten will. Das Kommunikationsdesaster hat sich vom Bund über die Landesebene bis in die Kreisstrukturen gezogen.
Wie würden Sie die Rolle von Landrat Ingo Brohl und des Kreises in der Pandemie sehen?
KRIVEC Der Landrat hat eine Führungsaufgabe. In der Pandemie war aber der Krisenstab des Kreises die zentrale Figur, nicht der Landrat persönlich. Im Kreishaus sind aber auch Fehler gemacht worden. Man hat an vielen Stellen gemerkt, dass die Verwaltung zusammenhält. Bei den zahlreichen Sitzungen fällt kaum ein schlechtes Wort. Da wird kaum hinterfragt, diskutiert. Niemand widerspricht.
Einfach machen – das war Ihr Motto in der Pandemie, das liest man in Ihrem Buch. Etwa bei der sechsten und siebten Impfdosis, die sie aus den Fläschchen gezogen haben, entgegen der Regel.
KRIVEC Die erste Impfung haben wir kurz nach Weihnachten 2020 im Seniorenstift Bethanien in Moers gehabt. Eine Mitarbeiterin sagte mir, dass etwas nicht stimmen könne, weil sie immer sieben Dosen rausbekommen haben. Erlaubt waren nur fünf. Wir haben uns das angesehen und festgestellt, dass das wirklich so war. Dann brach die Diskussion los, ob man das jetzt so machen kann oder nicht. Ich habe gesagt, ich würde es nehmen. Die siebte Dosis ist so gut wie die erste. Wer aber übernimmt hier die Verantwortung?
Sie beschreiben in Ihrem Buch die Szene, wo Sie auf eine Entscheidung warten.
KRIVEC Der Landrat war da, der Ärztliche Leiter der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) und so weiter. Aber ich habe gespürt: Keiner will das entscheiden. Ich habe das am Ende auf meine Kappe genommen, weil aus fachlicher Sicht nichts dagegensprach. Das war gut. Wir haben damit aber Diskussionen ausgelöst.
Nämlich?
KRIVEC Der Kreis Wesel hat sofort am nächsten Tag eine Pressemitteilung rausgegeben, dass wir sieben Spritzen aufziehen. Das ist in einem „Spiegel“-text gelandet, der schwierig war. Die Konsequenz war, dass den Ärzten von der KV verboten wurde, das zu machen, weil es keine offizielle Verlautbarung gab. Wir haben es trotzdem gemacht. Es wäre Blödsinn gewesen, es nicht zu tun.
War das nicht zum Verrücktwerden?
KRIVEC Ja, natürlich war das zum Verrücktwerden. In 50 bis 60 Prozent der Fälle konnte ich mehr Impfstoff gewinnen als vorgesehen war und den schmeißen wir doch nicht weg! Wir haben versucht, den Impfstoff unter die Menschen zu bekommen, im Zweifel auch an diejenigen, die einfach gerade zufällig vor Ort waren. Natürlich hatten wir die Prioritätenliste einzuhalten, aber wenn das nicht ging, dann ging das nicht.
Es waren sehr bürokratische Auseinandersetzungen zum Teil. Sie waren aber mittendrin und konnten nicht warten.
KRIVEC Wir waren den politischen Entscheidungen notgedrungen immer voraus. In einer Pandemie muss man schnell und entschieden handeln, sonst ist man zu spät.
Sie haben sich hin und wieder auch Luft gemacht, Briefe und Mails geschrieben.
KRIVEC Wir hatten in Alpen-veen vor dem Jahreswechsel 2020 geimpft und sehr viel Impfstoff übrig. Man durfte den Impfstoff damals noch nicht transportieren, aber versuchen Sie mal in Veen zwischen den Jahren jemanden zu finden. Also haben wir die Heimmitarbeiter nach Angehörigen gefragt, aber wir hatten immer noch Impfstoff übrig. Wir wussten, dass parallel in Alpen in einem Heim geimpft wurde, die wollten noch Impfstoff haben. Als diskutiert wurde, wie wir den Impfstoff darüber bringen, habe ich gesagt: Wir nehmen einfach eine Kühltruhe aus der Küche und dann fahre ich das persönlich darüber. Wir haben gegen jede Regel verstoßen, die zu diesem Zeitpunkt galt.
Riskant, oder?
KRIVEC Wie heißt es bei der Bundeswehr: „Melden macht frei“. Also habe ich in einen großen Verteiler geschrieben, was ich tue. Wenn mich irgendwann jemand dafür kritisieren würde, konnte ich sagen: Wussten alle.
Aber dann hat sich jemand aus dem Gesundheitsministerium gemeldet.
KRIVEC Ja, nach den Weihnachtsferien. Er sagte mir dann, dass das gar nicht geht. Ihm ging es darum, dass ich ohne Polizeischutz den Impfstoff transportiert habe. Da habe ich gesagt: Das ist doch der größte Blödsinn. Wer weiß denn, dass ich den Impfstoff geladen habe – zwischen den Jahren in Alpen?
Hat Ihnen der Pragmatismus gefehlt?
KRIVEC Ja, am Ende hat mir das Pragmatische gefehlt. In den ganzen Krisenstäben saßen vor allem Laien. Wenn der Chef der Behörde dann nicht sagt: Wir machen das jetzt einfach so, was sollen die denn tun? Immer wieder war es so, dass uns Behörden nach Schutzausrüstung gefragt haben, Kittel zum Beispiel, die wir auch hätten liefern können. Als sich die Behörde dann erst eine Woche später wieder gemeldet hat, waren die dann aber schon weg.
Nachdem in Moers gelbe Buttons mit „Impfen? Ja, bitte“-aufdruck verteilt wurden, sind Sie auch persönlich in den Fokus geraten.
KRIVEC Ja, ich wurde mehrfach bedroht. Von Neonazis, die in der Apotheke gestanden haben und zu mir durch wollten. Die Flugblätter der „Volksgemeinschaft Niederrhein“und einen „Impfen? Nein, Danke“Button hinterließen und vor der Apotheke verteilten. In dem Flugblatt wurde ich namentlich erwähnt und, dass 1488 Buttons gegen das Impfen produziert worden seien – eine Chiffre der Rechtsextremen.
Sollte Sie das einschüchtern?
KRIVEC Ich habe darauf nicht reagiert, ich wollte dem damals keine Plattform geben. Angst hatte ich keine. Das Ganze hat eine andere Qualität bekommen, als bei anderen Einzelhändlern handgeschriebene Zettel mit Drohungen gegen mich eingegangen sind. Als dann auch an meiner Privatanschrift derartige Zettel hingen, war eine Grenze überschritten. Wir haben dann entsprechende Sicherheitsvorkehrungen getroffen, aber ich habe mich weiterhin demonstrativ gezeigt.
Sie haben einen Preis gezahlt für Ihren Einsatz. Würden Sie das wieder tun?
KRIVEC Ja! Wenn die Einsatzbereitschaft von Einzelnen nicht da gewesen wäre, wären wir wesentlich schlechter durch die Pandemie gekommen. Das Engagement war wichtig.
Hat es sich denn gelohnt?
Ich glaube schon. Trotz aller Probleme und Fehler haben wir die vergangenen zwei Jahre relativ gut gemeistert. Einige Dinge hätte man anders machen müssen. Die Schulschließungen, die Isolation der Älteren – das waren die größten Fehler, die wir machen konnten. Wir müssen jetzt unbedingt aus unseren Fehlern lernen. Corona wird wiederkommen, es wird andere Pandemien geben. Wir hätten längst Lehren aus der Vergangenheit ziehen können, haben wir aber nicht. Corona ist bei vielen Bürgern jetzt schon aus dem Sinn. Eigentlich bräuchten wir künftig im Kreis einen Pandemiebeauftragten, der sagt, wo es langgeht. Eine Idee des Amtsapothekers, die ich nur unterstützen kann.