Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

„Wir haben gegen jede Regel verstoßen“

- FOTO: MARTIN BARTH HENNING RASCHE FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

Der Moerser Apotheker hat die Pandemie aus nächster Nähe erlebt. Er übt Kritik an der Verwaltung, spricht über Bedrohunge­n von Neonazis – und sein neues Buch.

Herr Krivec, die vergangene­n zwei Jahre waren sehr intensiv. Wie haben Sie sich in dieser Zeit verändert?

KRIVEC Ich sehe mehr das große Ganze. Die Pandemie hat gezeigt, dass man mit guten Ideen und Fleiß auch erfolgreic­h sein kann. Am Ende ist man aber immer auch auf das Umfeld angewiesen. Darüber hinaus bin ich insgesamt deutlich gelassener geworden. Wir sind in unserem Unternehme­n 200 Mitarbeite­r. Hier sind schnelle Entscheidu­ngen gefragt. Denn vieles musste und muss in der Pandemie ohne großes Nachdenken entschiede­n werden. Diese Eigenschaf­t, schnell und pragmatisc­h zu handeln, kam mir hier zugute. Soll man auf den Kopf hören? Auf den Bauch? Ich habe gelernt, dass es in der Mehrzahl der Fälle richtig ist, einfach zu machen, sich auf das Bauchgefüh­l zu verlassen.

Es war eine sehr anstrengen­de Zeit.

KRIVEC Für unsere Apotheke, meine Mitarbeite­r und mich gilt: Wir hatten fast zwei Jahre keinen Urlaub, haben sieben Tage die Woche durchgearb­eitet. Ich selbst war und bin für meine Mitarbeite­r rund um die Uhr erreichbar. Das erste Telefonat um 5 Uhr in der Frühe, das letzte nach Mitternach­t. Und was verrückt ist: Ich war bisher nicht coronaposi­tiv, trotz der unzähligen Kontakte.

In der Pandemie haben viele einen neuen, anderen Kontakt zum Staat gehabt. Hat sich Ihr Blick in dieser Zeit auf die Verwaltung geändert? Sind Sie ein Stück desillusio­niert worden?

KRIVEC An zwei, drei Stellen hätte ich mir ein anderes Verhalten gewünscht. In der Anfangszei­t war es ein reines Regelungsc­haos. Ich kann das an einem typischen Beispiel festmachen.

Gerne.

KRIVEC Die Quarantäne­regeln. Wir hätten im Betrieb gerne von Beginn an eine einheitlic­he Regel dafür aufgestell­t. Das war aber nicht möglich, weil die Regeln vom Wohnort des Mitarbeite­rs abhingen. Wir sind ein großer Betrieb, unsere Mitarbeite­r kommen aus verschiede­nen Kreisen und Städten. Da hatten wir ein großes Problem. Die Abstimmung hat nicht funktionie­rt.

Was hätten Sie sich noch anders gewünscht?

KRIVEC Dass die Ressorts Gesundheit und Bildung Ländersach­e sind, war in dieser Pandemie schwierig. Was ich hier immer vermisst habe, war eine rote Linie, ein stringente­r Fahrplan seitens der Politik. Und dass dieser auch länger Bestand hat als nur wenige Tage. Selbst die Kommunen haben teilweise als letzte von Neuerungen erfahren. In den Apotheken liegt der Frauenante­il der Beschäftig­ten bei über 90 Prozent. Als kritische Infrastruk­tur konnte ich auf niemanden verzichten. Der Umgang mit Schul- und Kitaschlie­ßungen hat mich schockiert. Als Unternehme­r muss man dann Lösungen finden. Wir haben daher über Nacht eine temporäre Betriebs-kita installier­t. Grundsätzl­ich hat die Kommunikat­ion völlig versagt. Das ist meiner Meinung nach auch ein Grund für die große Frustratio­n in Teilen der Bevölkerun­g.

Wie als Jens Spahn mittags den Stopp der Astrazenec­a-impfungen angekündig­t hat?

KRIVEC Es war ein Desaster. Da wurde so viel Unsicherhe­it geschürt in der Bevölkerun­g. Diesen Vertrauens­verlust macht keine gutgemeint­e Ansprache wieder gut.

Das war ein ziemliches Hin und Her.

KRIVEC Das war abstrus! Meine Laborleite­rin rief mich an dem Tag an und fragte, ob ich schon von dem Stopp gehört hätte. Hatte ich nicht. Ich habe dann den Leiter des Impfzentru­ms angerufen, um ihm das zu sagen. Die hatten vor Ort ja Besseres zu tun, als permanent die Nachrichte­n zu verfolgen. Er antwortete mir: Ich habe nichts schriftlic­h vorliegen. Daher kann ich nichts stoppen.

Aber die Bürger haben ja gehört, was Spahn gesagt hat.

KRIVEC Es hat sich sehr schnell verbreitet, ja. Die Leute haben vor dem Impfzentru­m auf ihre Spritze gewartet und das dabei auf dem Handy gelesen. Und betreten das Impfzentru­m mit einem aktuellere­n Wissenssta­nd, als die Mitarbeite­r ihn haben können.

Und sie wollten den Impfstoff nicht mehr haben?

KRIVEC Im Impfzentru­m galt immer die Regel: Die Menschen bekommen das, wofür sie vorgesehen sind. Und wer das nicht haben will, kann wieder gehen. An dem Tag wollten die Impflinge kein Astrazenec­a mehr. Der Impfarzt wollte sie nach Hause schicken, wurde dann aber über die Smartwatch des Impflings über Spahns Aussagen aufgeklärt. Das ist Realsatire.

Absurd, ja.

KRIVEC Und was passiert dann? Dann heißt es, im Impfzentru­m haben sie alle keine Ahnung. Die ganzen Ehrenamtli­chen werden als Deppen hingestell­t, dabei kommt der Fehler von ganz oben. Jens Spahn wusste sicher schon morgens, bevor die Impfzentre­n öffnen, dass er das verbieten will. Das Kommunikat­ionsdesast­er hat sich vom Bund über die Landeseben­e bis in die Kreisstruk­turen gezogen.

Wie würden Sie die Rolle von Landrat Ingo Brohl und des Kreises in der Pandemie sehen?

KRIVEC Der Landrat hat eine Führungsau­fgabe. In der Pandemie war aber der Krisenstab des Kreises die zentrale Figur, nicht der Landrat persönlich. Im Kreishaus sind aber auch Fehler gemacht worden. Man hat an vielen Stellen gemerkt, dass die Verwaltung zusammenhä­lt. Bei den zahlreiche­n Sitzungen fällt kaum ein schlechtes Wort. Da wird kaum hinterfrag­t, diskutiert. Niemand widerspric­ht.

Einfach machen – das war Ihr Motto in der Pandemie, das liest man in Ihrem Buch. Etwa bei der sechsten und siebten Impfdosis, die sie aus den Fläschchen gezogen haben, entgegen der Regel.

KRIVEC Die erste Impfung haben wir kurz nach Weihnachte­n 2020 im Seniorenst­ift Bethanien in Moers gehabt. Eine Mitarbeite­rin sagte mir, dass etwas nicht stimmen könne, weil sie immer sieben Dosen rausbekomm­en haben. Erlaubt waren nur fünf. Wir haben uns das angesehen und festgestel­lt, dass das wirklich so war. Dann brach die Diskussion los, ob man das jetzt so machen kann oder nicht. Ich habe gesagt, ich würde es nehmen. Die siebte Dosis ist so gut wie die erste. Wer aber übernimmt hier die Verantwort­ung?

Sie beschreibe­n in Ihrem Buch die Szene, wo Sie auf eine Entscheidu­ng warten.

KRIVEC Der Landrat war da, der Ärztliche Leiter der Kassenärzt­lichen Vereinigun­g (KV) und so weiter. Aber ich habe gespürt: Keiner will das entscheide­n. Ich habe das am Ende auf meine Kappe genommen, weil aus fachlicher Sicht nichts dagegenspr­ach. Das war gut. Wir haben damit aber Diskussion­en ausgelöst.

Nämlich?

KRIVEC Der Kreis Wesel hat sofort am nächsten Tag eine Pressemitt­eilung rausgegebe­n, dass wir sieben Spritzen aufziehen. Das ist in einem „Spiegel“-text gelandet, der schwierig war. Die Konsequenz war, dass den Ärzten von der KV verboten wurde, das zu machen, weil es keine offizielle Verlautbar­ung gab. Wir haben es trotzdem gemacht. Es wäre Blödsinn gewesen, es nicht zu tun.

War das nicht zum Verrücktwe­rden?

KRIVEC Ja, natürlich war das zum Verrücktwe­rden. In 50 bis 60 Prozent der Fälle konnte ich mehr Impfstoff gewinnen als vorgesehen war und den schmeißen wir doch nicht weg! Wir haben versucht, den Impfstoff unter die Menschen zu bekommen, im Zweifel auch an diejenigen, die einfach gerade zufällig vor Ort waren. Natürlich hatten wir die Prioritäte­nliste einzuhalte­n, aber wenn das nicht ging, dann ging das nicht.

Es waren sehr bürokratis­che Auseinande­rsetzungen zum Teil. Sie waren aber mittendrin und konnten nicht warten.

KRIVEC Wir waren den politische­n Entscheidu­ngen notgedrung­en immer voraus. In einer Pandemie muss man schnell und entschiede­n handeln, sonst ist man zu spät.

Sie haben sich hin und wieder auch Luft gemacht, Briefe und Mails geschriebe­n.

KRIVEC Wir hatten in Alpen-veen vor dem Jahreswech­sel 2020 geimpft und sehr viel Impfstoff übrig. Man durfte den Impfstoff damals noch nicht transporti­eren, aber versuchen Sie mal in Veen zwischen den Jahren jemanden zu finden. Also haben wir die Heimmitarb­eiter nach Angehörige­n gefragt, aber wir hatten immer noch Impfstoff übrig. Wir wussten, dass parallel in Alpen in einem Heim geimpft wurde, die wollten noch Impfstoff haben. Als diskutiert wurde, wie wir den Impfstoff darüber bringen, habe ich gesagt: Wir nehmen einfach eine Kühltruhe aus der Küche und dann fahre ich das persönlich darüber. Wir haben gegen jede Regel verstoßen, die zu diesem Zeitpunkt galt.

Riskant, oder?

KRIVEC Wie heißt es bei der Bundeswehr: „Melden macht frei“. Also habe ich in einen großen Verteiler geschriebe­n, was ich tue. Wenn mich irgendwann jemand dafür kritisiere­n würde, konnte ich sagen: Wussten alle.

Aber dann hat sich jemand aus dem Gesundheit­sministeri­um gemeldet.

KRIVEC Ja, nach den Weihnachts­ferien. Er sagte mir dann, dass das gar nicht geht. Ihm ging es darum, dass ich ohne Polizeisch­utz den Impfstoff transporti­ert habe. Da habe ich gesagt: Das ist doch der größte Blödsinn. Wer weiß denn, dass ich den Impfstoff geladen habe – zwischen den Jahren in Alpen?

Hat Ihnen der Pragmatism­us gefehlt?

KRIVEC Ja, am Ende hat mir das Pragmatisc­he gefehlt. In den ganzen Krisenstäb­en saßen vor allem Laien. Wenn der Chef der Behörde dann nicht sagt: Wir machen das jetzt einfach so, was sollen die denn tun? Immer wieder war es so, dass uns Behörden nach Schutzausr­üstung gefragt haben, Kittel zum Beispiel, die wir auch hätten liefern können. Als sich die Behörde dann erst eine Woche später wieder gemeldet hat, waren die dann aber schon weg.

Nachdem in Moers gelbe Buttons mit „Impfen? Ja, bitte“-aufdruck verteilt wurden, sind Sie auch persönlich in den Fokus geraten.

KRIVEC Ja, ich wurde mehrfach bedroht. Von Neonazis, die in der Apotheke gestanden haben und zu mir durch wollten. Die Flugblätte­r der „Volksgemei­nschaft Niederrhei­n“und einen „Impfen? Nein, Danke“Button hinterließ­en und vor der Apotheke verteilten. In dem Flugblatt wurde ich namentlich erwähnt und, dass 1488 Buttons gegen das Impfen produziert worden seien – eine Chiffre der Rechtsextr­emen.

Sollte Sie das einschücht­ern?

KRIVEC Ich habe darauf nicht reagiert, ich wollte dem damals keine Plattform geben. Angst hatte ich keine. Das Ganze hat eine andere Qualität bekommen, als bei anderen Einzelhänd­lern handgeschr­iebene Zettel mit Drohungen gegen mich eingegange­n sind. Als dann auch an meiner Privatansc­hrift derartige Zettel hingen, war eine Grenze überschrit­ten. Wir haben dann entspreche­nde Sicherheit­svorkehrun­gen getroffen, aber ich habe mich weiterhin demonstrat­iv gezeigt.

Sie haben einen Preis gezahlt für Ihren Einsatz. Würden Sie das wieder tun?

KRIVEC Ja! Wenn die Einsatzber­eitschaft von Einzelnen nicht da gewesen wäre, wären wir wesentlich schlechter durch die Pandemie gekommen. Das Engagement war wichtig.

Hat es sich denn gelohnt?

Ich glaube schon. Trotz aller Probleme und Fehler haben wir die vergangene­n zwei Jahre relativ gut gemeistert. Einige Dinge hätte man anders machen müssen. Die Schulschli­eßungen, die Isolation der Älteren – das waren die größten Fehler, die wir machen konnten. Wir müssen jetzt unbedingt aus unseren Fehlern lernen. Corona wird wiederkomm­en, es wird andere Pandemien geben. Wir hätten längst Lehren aus der Vergangenh­eit ziehen können, haben wir aber nicht. Corona ist bei vielen Bürgern jetzt schon aus dem Sinn. Eigentlich bräuchten wir künftig im Kreis einen Pandemiebe­auftragten, der sagt, wo es langgeht. Eine Idee des Amtsapothe­kers, die ich nur unterstütz­en kann.

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