Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Wenn Durst wilder als Hunger ist

Nobelpreis­trägerin Herta Müller spricht in Gladbach über Unterdrück­ung und die Kraft der Literatur.

- VON LOTHAR SCHRÖDER

Natürlich ist jeder Schriftste­ller überrascht, wenn er den Nobelpreis bekommt. Dass Herta Müller aber noch etwas überrascht­er und vor allem unvorberei­teter war, lag vielleicht an ihrem Mann. Der machte sie an einem Morgen im Oktober 2008 auf die vielen Journalist­en aufmerksam, die vor dem Haus herumlunge­rten. Weil ihr Großes schwante, kleidete sie sich in Windeseile fein, schminkte sich und hörte dann die Nachricht, dass überrasche­nd der Franzose Jean-marie Gustave Le Clézio mit dem hohen Lorbeer aus Stockholm bedacht wird. „Shit happens“, dachte sie. Es war der rumäniende­utschen Schriftste­ller eine Lehre, und so scherte sie sich im kommenden Jahr nicht die Bohne um den erneuten Gerüchteru­mmel. Wieder ein Fehler. Denn diesmal wurde ihr tatsächlic­h der Nobelpreis zuerkannt.

Auch davon erzählte Müller jetzt in der Kaiser-friedrich-halle zu Mönchengla­dbach. Dorthin lädt der Initiativk­reis der Stadt seit vielen Jahren Persönlich­keiten zu Vorträgen und Gesprächen ein. Darunter 17 Nobelpreis­träger. Herta Müller war in diesem Kreis der Hochdekori­erten die erste Schriftste­llerin.

Müller, deren Mutter von den Sowjets nach dem Zweiten Weltkrieg in ein ukrainisch­es Arbeitslag­er verschlepp­t worden war. Müller, die unter der rumänische­n Diktatur zu leiden hatte, verfolgt, verhört, drangsalie­rt wurde. Müller, die bei ihrer Einwanderu­ng von deutschen Behörden verdächtig­t wurde, für Geheimdien­ste zu arbeiten. Müller, die nach all diesen Erfahrunge­n mit Nachdruck befürworte­t, die Ukraine auch mit der Lieferung schwerer Waffen zu unterstütz­en, und die nur im Sturz Putins eine Zukunft auch für den Osten Europas sieht.

Ihre Lebensgesc­hichte ist viele Jahre eine Leidens- und Verfolgung­sgeschicht­e gewesen; die Literatur war es, die ihr half, auch diese Zeit zu bestehen. Vor allem der Roman „Atemschauk­el“, der auf gründliche­n Recherchen gemeinsam mit dem Autor Oskar Pastior fußt und den sie erst nach dem plötzliche­n Tod Pastiors schrieb. Auch daraus las Herta Müller vor, eine Szene aus dem Arbeitslag­eralltag, in der ein Taschentuc­h und dessen vielfältig­e Verwendung all die Entbehrung­en und Entwürdigu­ngen zum Symbol macht.

Es war nicht allein die Lesung, die Müllers Erzählkraf­t so anschaulic­h machte. Vielmehr präsentier­te die 68-Jährige sich auch als lebendige und gestenreic­he Chronistin ihrer Erlebnisse und ihrer Zeit – zunächst im Gespräch mit dem ebenfalls aus dem rumänische­n Banat stammenden Autor und Übersetzer Ernest Wichner, zunehmend dann aber im spannenden, nachdenkli­ch stimmenden Monolog. Mit Worten, die ihr zum eigenen Verstehen dienen, die über das Leid hinweghelf­en, die Botschafte­r sind. Dazu gehört dann auch die Erinnerung an bedeutsame Sätze ihrer Mutter – wie: „Durst ist wilder als Hunger.“

Jedes Wort ist wichtig für Herta Müller. Auch darum begann sie vor etlichen Jahren mit sogenannte­n Collagen, zunächst als Ersatz für Postkarten an Freunde, dann als eigenständ­ige kleinere und später auch größere Texte. Dazu bedient sie sich der Wörter, die sie aus Zeitschrif­ten ausschneid­et, sammelt, in einem Schränkche­n alphabetis­ch sortiert, auf einem sogenannte­n Wörtertisc­h zur „Weitervera­rbeitung“auslegt. Auch ein paar dieser Collagente­xte las sie vor und gab damit Einblicke in ihre Werkstatt, in ihr Fühlen, Denken und die Bedeutsamk­eit der Wörter. Ein großer, intensiver Abend.

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FOTO: DETLEF ILGNER Herta Müller (r.) im Gespräch mit dem Autor Ernest Wichner.

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