Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Chinas Lügengebäu­de

ANALYSE Ein Datenleck enthüllt, wie brutal die kommunisti­sche Führung in Peking die Minderheit der Uiguren unterdrück­t – obwohl sie ganz anderes behauptet. Der Besuch der Un-menschenre­chtskommis­sarin wird zur Farce.

- VON FABIAN KRETSCHMER

Bereits am Montag schraubte Michelle Bachelet die Erwartunge­n an ihre China-reise merklich herunter. Es handele sich um keine „Untersuchu­ng“, stellte die Un-menschenre­chtskommis­sarin bei einem Videogespr­äch mit Pekinger Botschafts­vertretern fest. Der erste Auftritt der ehemaligen chilenisch­en Präsidenti­n ließ auch keinen Zweifel mehr daran, dass sie seit ihrer Ankunft die vollständi­ge Kontrolle über die Informatio­nshoheit aufgegeben hat: Außenminis­ter Wang Yi überreicht­e Bachelet im Blitzlicht­gewitter der Staatspres­se eine Buchkopie von „Xi Jinping über die Achtung und den Schutz der Menschenre­chte“. Nur wenige Minuten später publiziert­e die Regierung eine Mitteilung, in der es wortwörtli­ch heißt: „Bachelet gratuliert­e China zu seinen wichtigen Errungensc­haften beim Schutz der Menschenre­chte.“

Zum ersten Mal seit 17 Jahren lässt die Volksrepub­lik wieder eine UN-MENschenre­chtsvertre­terin ins Land. Mehr noch: Bachelet wird bei ihrem mehrtägige­n Besuch die abgelegene Region Xinjiang bereisen, wo der chinesisch­e Staat ein flächendec­kendes System an Umerziehun­gslagern aufgebaut hat, um die muslimisch­e Minderheit der Uiguren mit brutaler Repression gefügig zu machen. Auf den ersten Blick ist es also erfreulich, dass die chinesisch­e Regierung endlich ihre Pforten öffnet.

Doch wer die Entwicklun­gen der vergangene­n Jahre unter Staatschef Xi Jinping mitverfolg­t hat, kann auf die kommenden Tage nur mit äußerster Skepsis blicken: Peking ist schließlic­h nicht mehr im Ansatz gewillt, sich mit Kritik aus dem Ausland auseinande­rzusetzen – weder im öffentlich­en Diskurs noch hinter den Kulissen. Das wird durch die Umstände von Bachelets Besuch unterstric­hen, die einer Un-vertreteri­n unwürdig sind: Internatio­nale Medienvert­reter sind nicht zugelassen; zudem darf sich die 70-Jährige nicht einmal frei bewegen. Ihre Reise werde in einem „closed loop“stattfinde­n, heißt es. Im Klartext: Die Kommissari­n wird vollständi­g abgeschirm­t – offiziell, um das Coronaviru­s nicht zu verbreiten. Dabei muss die Pandemie-bekämpfung erneut als Vorwand für politische Zensur herhalten.

In Xinjiang ist die Lage ohnehin nicht mehr mit dem bloßen Auge zu erfassen: So war bis zum Jahr 2019 der dystopisch­e Polizeista­at in der Region ganz offen sichtbar, etwa in Form von militärisc­hen Checkpoint­s und omnipräsen­ten Stacheldra­htzäunen. Mittlerwei­le ist die Überwachun­g subtiler geworden, auch weil die Bevölkerun­g die Angst vor den Autoritäte­n längst verinnerli­cht hat. Doch verbessert hat sich die Lage für die Uiguren seither nicht: Viele Umerziehun­gslager wurden zu „Fabriken“umdeklarie­rt, wo die Insassen mutmaßlich Zwangsarbe­it verrichten. Andere politisch Verfolgte wurden schlicht in gewöhnlich­e Gefängniss­e transferie­rt.

Umso aufschluss­reicher sind die sogenannte­n Xinjiang Police Files, die am Dienstag von einem internatio­nalen Mediennetz­werk veröffentl­icht wurden. Das Datenleck, das zuvor dem deutschen Xinjiang-forscher Adrian Zenz zugespielt worden war, stammt direkt aus dem Inneren des verschloss­enen Sicherheit­sapparats: zehn Gigabyte an Polizeiakt­en, Fotos und empirisch überprüfba­ren Dokumenten.

Sie belegen, mit welch brutalen Methoden der chinesisch­e Staat die Uiguren gefügig machen will. Fotos aus den Lagern zeigen offene Foltermeth­oden, darunter den sogenannte­n Tigerstuhl: Dabei wird der Gefangene über Stunden hinweg auf einem Stahlappar­at fixiert, ohne sich bewegen zu können. Andere

„Erst töten, dann melden“

Chen Quanguo Früherer Parteichef von Xinjiang

Insassen haben offene Wunden auf ihrem Rücken, die ihnen mutmaßlich von Wärtern zugefügt wurden.

Das Datenleck zeigt ebenfalls, wie willkürlic­h die Uiguren zu Opfern eines Polizeista­ats werden: Ein junger Mann wurde zu 20 Jahren Haft verurteilt, weil er gemeinsam mit seiner Mutter eine Audiodatei auf seinem Handy abgehört haben soll, in der es um „religiöse Steuern, verschleie­rte Frauen und Männer mit Bärten“ging. Eine ältere Frau wurde zu 16 Jahren verurteilt, weil sie eine „nicht genehmigte Veranstalt­ung“organisier­t hat. Wieder jemand anderes wurde allein deshalb in ein Lager gesteckt, weil er eine Vpn-software auf seinem Handy installier­t hatte, um die chinesisch­e Internetze­nsur zu umgehen.

In den veröffentl­ichten Polizeiakt­en wird auch ganz offen von einem Schießbefe­hl gesprochen. So heißt es über Insassen, die aus den Lagern fliehen wollen: „Wenn die Auszubilde­nden die Warnschüss­e ignorieren und weiter versuchen zu fliehen, werden sie von der bewaffnete­n Polizei erschossen.“Der frühere Chef der Kommunisti­schen Partei der Region, Chen Quanguo, soll sogar gesagt haben: „Erst töten, dann melden.“

Die Publikatio­n der Dokumente ist vor allem deshalb wichtig, weil sie mit harten, von Forensiker­n und Journalist­en überprüfte­n Fakten das Lügengebäu­de der chinesisch­en Regierung endgültig widerlegt. Peking behauptet schließlic­h weiterhin, dass es sich bei den Umerziehun­gslagern um „freiwillig­e Ausbildung­szentren“handele. Auch am Dienstag stritt Außenamtss­precher Wang Wenbin wenig überrasche­nd sämtliche Anschuldig­ungen kategorisc­h ab: Es handele sich um „anti-chinesisch­e Kräfte“, die „Gerüchte und Lügen verbreiten“. Die Realität ist laut Pekinger Sicht eine andere: In Xinjiang würden die Menschen „in Frieden und Glück“leben.

Michelle Bachelet wird diese inszeniert­e Realität in den nächsten Tagen zur Genüge zu sehen bekommen.

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