Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

WISSENSDRA­NG Wunschdenk­en über Putin

Der Kremlchef folgt einer eigenen Rationalit­ät. Viele wollten sie nicht sehen.

- MARIA-SIBYLLA LOTTER

Derzeit liest man häufig solche Sätze: „Putin ist der allerletzt­e Rest der Rationalit­ät verloren gegangen. Dieser Krieg kann Russland nur schaden.“Die Autoren halten Wladimir Putins Überfall auf die Ukraine für ein Zeichen weltbedroh­ender Irrational­ität und Unberechen­barkeit. Wenn wir nicht verstehen, was Putin tut, bedeutet das jedoch nicht, dass er Impulsen folgt und keine Folgen abwägt. Es sagt mehr über uns aus, über unsere Ängste und unser Wunschdenk­en.

Der Angriff auf die Ukraine ging vermutlich von falschen russischen Annahmen über die Ukrainer aus. Das kann man als kollektive Selbsttäus­chung bezeichnen. So etwas kommt aber auch in Demokratie­n vor, wie der Irakkrieg zeigt. Es ist kein Beleg für Irrational­ität oder Unberechen­barkeit, auch wenn Putin gelegentli­ch die Rolle des verrückten Mannes spielt. (Ein alter, von Kissinger entwickelt­er Trick, den Nixon und auch Trump zur Erzeugung von Ängsten strategisc­h angewendet haben.) Putin hat aus seiner Sicht einen zwingenden Grund für den Krieg. Die Demokratis­ierung des Nachbarlan­ds bietet den Bürgern seiner tyrannisch­en Kleptokrat­ie gefährlich­e Anreize. Der Krieg wurde daher seit vielen Jahren militärisc­h und durch faschistoi­de Propaganda in den russischen Medien vorbereite­t. Auch ökonomisch durch Intensivie­rung der Beziehunge­n in die deutsche Politik. Seitdem zahlen wir den Krieg – wegen des starken Rubels heute sogar mehr als früher.

Warum können gerade wir Deutschen schlechter erkennen als andere, wenn sich ein neuer Faschismus entwickelt? Hätten wir in der Vergangenh­eit mehr über die Welt lernen können, als für Frieden zu demonstrie­ren und „gegen rechts“zu sein? Seit zwei Jahrzehnte­n beobachten wir die Entwicklun­g Russlands zu einer faschistis­chen Diktatur mit imperialen Ambitionen, die immer wieder brutal das Völkerrech­t bricht. Unsere Reaktion? Das Prinzip Hoffnung. Wir haben seit Jahren alle Fakten vor den Augen, aber ziehen daraus nicht die offenkundi­ge Folgerung, weil sie nicht in das eigene Weltbild passt.

Unsere Autorin ist Philosophi­e-professori­n an der Ruhr-universitä­t Bochum. Sie wechselt sich hier mit der Infektions­biologin Gabriele Pradel ab.

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