Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
WISSENSDRANG Wunschdenken über Putin
Der Kremlchef folgt einer eigenen Rationalität. Viele wollten sie nicht sehen.
Derzeit liest man häufig solche Sätze: „Putin ist der allerletzte Rest der Rationalität verloren gegangen. Dieser Krieg kann Russland nur schaden.“Die Autoren halten Wladimir Putins Überfall auf die Ukraine für ein Zeichen weltbedrohender Irrationalität und Unberechenbarkeit. Wenn wir nicht verstehen, was Putin tut, bedeutet das jedoch nicht, dass er Impulsen folgt und keine Folgen abwägt. Es sagt mehr über uns aus, über unsere Ängste und unser Wunschdenken.
Der Angriff auf die Ukraine ging vermutlich von falschen russischen Annahmen über die Ukrainer aus. Das kann man als kollektive Selbsttäuschung bezeichnen. So etwas kommt aber auch in Demokratien vor, wie der Irakkrieg zeigt. Es ist kein Beleg für Irrationalität oder Unberechenbarkeit, auch wenn Putin gelegentlich die Rolle des verrückten Mannes spielt. (Ein alter, von Kissinger entwickelter Trick, den Nixon und auch Trump zur Erzeugung von Ängsten strategisch angewendet haben.) Putin hat aus seiner Sicht einen zwingenden Grund für den Krieg. Die Demokratisierung des Nachbarlands bietet den Bürgern seiner tyrannischen Kleptokratie gefährliche Anreize. Der Krieg wurde daher seit vielen Jahren militärisch und durch faschistoide Propaganda in den russischen Medien vorbereitet. Auch ökonomisch durch Intensivierung der Beziehungen in die deutsche Politik. Seitdem zahlen wir den Krieg – wegen des starken Rubels heute sogar mehr als früher.
Warum können gerade wir Deutschen schlechter erkennen als andere, wenn sich ein neuer Faschismus entwickelt? Hätten wir in der Vergangenheit mehr über die Welt lernen können, als für Frieden zu demonstrieren und „gegen rechts“zu sein? Seit zwei Jahrzehnten beobachten wir die Entwicklung Russlands zu einer faschistischen Diktatur mit imperialen Ambitionen, die immer wieder brutal das Völkerrecht bricht. Unsere Reaktion? Das Prinzip Hoffnung. Wir haben seit Jahren alle Fakten vor den Augen, aber ziehen daraus nicht die offenkundige Folgerung, weil sie nicht in das eigene Weltbild passt.
Unsere Autorin ist Philosophie-professorin an der Ruhr-universität Bochum. Sie wechselt sich hier mit der Infektionsbiologin Gabriele Pradel ab.