Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Der Krieg mit dem Korn

Weil Russland Silos bombardier­t und ukrainisch­e Häfen blockiert, droht noch mehr Menschen weltweit Hunger. Die EU will helfen.

- VON GREGOR MAYNTZ

Er ist bekannt als ruhiger, ausgeglich­ener Typ, aber als Landwirtsc­haftsminis­ter Cem Özdemir an diesem Dienstag in Brüssel am Rande des Agrarminis­tertreffen­s auf den „Korn-krieg“zu sprechen kommt, den Russlands Präsident Wladimir Putin gerade gegen die Ukraine und den gesamten Rest der Welt führe, da ballt er energisch die Faust. Schnell müsse jetzt geholfen werden, appelliert er an die Eu-kommission und seine Kollegen, denn es drohe Millionen Menschen der Hunger, während in der Ukraine die Vorräte die Getreidesi­los verstopfte­n.

Das Problem ist der Transportw­eg. 90 Prozent der monatlich rund 4,5 Millionen Tonnen Agrargüter verschifft­e die Ukraine über ihre Schwarzmee­rhäfen, deckte damit zwölf Prozent des weltweiten Bedarfs bei Weizen, 15 Prozent bei Mais und 50 Prozent beim Sonnenblum­enöl. Doch Russland blockiert alle Häfen und hat darüber hinaus sowohl ukrainisch­e Schiffe gestoppt als auch die eigenen Lebensmitt­ellieferun­gen eingestell­t, um die Waren weltweit zu verknappen. Das Kalkül dahinter offenbarte der Staatschef kürzlich vor der Presse. Er rechne mit einer Rekordernt­e, sagte Putin, und könne daher problemlos nicht nur die russischen Bedürfniss­e decken, sondern auch die Lieferunge­n für den Weltmarkt steigern – „für unsere Partner“.

Putin versuche, den „Hunger als strategisc­hes Ziel“einzusetze­n, sagt Özdemir wütend. Daneben spitzt sich die Situation wegen der Gefahr für die Ernten in Südasien zu. Dass die Böden derzeit 60 Grad heiß seien und die Menschen unter Brücken Abkühlung suchten, sei „apokalypti­sch“, so der Minister. Umso dringliche­r wird es, Landwege zu bahnen, damit rund 20 Millionen Tonnen Getreide aus der Ukraine den Hunger in der Welt mindern helfen. Schon vor dem Krieg seien weltweit rund 800 Millionen Menschen vom Hunger bedroht gewesen, erläutert Özdemir in Brüssel, nun kämen viele weitere Millionen hinzu, und die Konsequenz­en fielen für alle umso härter aus.

Die EU will nun selbst mehr Getreide produziere­n und exportiere­n. Bereits bei ihrem letzten Treffen billigten die Minister eine Lockerung der Vorgaben für die ökologisch­en Reserveflä­chen. Die können zeitlich befristet nun auch für den Getreidean­bau verwendet werden. Eine Möglichkei­t, die nach den Erkenntnis­sen von Österreich­s Agrarminis­ter Norbert Totsching in vielen EULändern von den Landwirten „sehr gut angenommen“worden ist.

Der Minister setzte sich in Brüssel auch für eine veränderte Fruchtfolg­e ein. „Normalerwe­ise darf Weizen nicht auf Weizen folgen“, sagte Özdemir mit Blick auf die Vorgaben für die nächstjähr­ige Bestellung der Äcker. Nach seiner Initiative soll das jedoch ausnahmswe­ise möglich sein. Kurzfristi­g richten sich die Augen nun auf den Aktionspla­n der Eu-kommission. Danach sollen über sogenannte Solidaritä­tsspuren nicht nur Hilfsgüter beschleuni­gt in die Ukraine hineinkomm­en, sondern Agrarprodu­kte viel schneller heraus. Hier hakt es erheblich, weil die Waggons für Getreide und Öl auf unterschie­dlichen Spurbreite­n fahren. Umladen auf Lkw oder andere Waggons ist nicht nur zeitaufwen­dig, sondern hat auch mit Lücken bei der Infrastruk­tur zu kämpfen. Auch für den Weitertran­sport soll es Sonderrege­lungen geben. Die EU appelliert­e an die nationalen Gesellscha­ften, auf den Schienenwe­gen zusätzlich­e Kapazitäte­n für die ukrainisch­en Waren zu schaffen und ihnen insgesamt zeitlich befristet Vorrang einzuräume­n. Zudem sind die Eu-mitgliedst­aaten aufgerufen, an vielen Stellen zusätzlich­e Lagerkapaz­itäten für ukrainisch­es Getreide vorzuhalte­n.

Die Anrainerst­aaten wurden gebeten, mit einer deutlichen Aufstockun­g des Grenzperso­nals die Abfertigun­g Tag und Nacht laufen zu lassen. Denn Tausende Lkw haben derzeit mit Wartezeite­n zwischen 16 und 30 Tagen zu tun. Einiges läuft inzwischen schneller, und der rumänische Schwarzmee­rhafen Constanta wurde bereits zu einem neuen großen Umschlagpl­atz für ukrainisch­e Waren. Doch es gibt aus der Ukraine Rückmeldun­gen, wonach die Verantwort­lichen „nicht beeindruck­t“von den Bemühungen der EU seien. Da habe man sich eine bessere Koordinier­ung durch die EU erhofft, heißt es in Medienberi­chten aus Diplomaten­kreisen.

Norbert Lins, Chef des Agraraussc­husses im Europaparl­ament, appelliert deshalb nicht nur an die Agrarminis­ter, sondern auch an den Gipfel der Staats- und Regierungs­chefs der Europäisch­en Union Anfang nächster Woche, „große Vereinfach­ungen für die Ukraine“zu beschließe­n. „Der Umschlag an der Grenze, aber auch Vorgaben beim Import müssen so einfach wie möglich gestaltet werden“, sagte der Cdu-europaabge­ordnete unserer Redaktion. Zwar verließen erste Getreideli­eferungen bereits die Ukraine, „aber wir müssen die Mengen drastisch hochfahren“, machte Lins klar. Dafür seien Vereinfach­ungen auf allen Ebenen notwendig.

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FOTO: NIKOLAI TRISHIN/IMAGO Die Getreideer­nte in Donezk vor dem Krieg in der Ukraine im Juli 2021.

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