Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Tatwaffe Thallium

Ein Krankenpfl­eger aus Hürth soll mehrere Frauen mit dem Schwermeta­ll vergiftet haben, das früher auch gegen Ratten eingesetzt wurde. Seine Ehefrau und die Großmutter seiner neuen Freundin starben. Einblicke in die Ermittlung­sakte.

- VON CLAUDIA HAUSER

Mit rätselhaft­en Symptomen wird am 12. November 2021 eine schwerkran­ke Patientin in die Düsseldorf­er Universitä­tsklinik eingeliefe­rt. Die damals 36-jährige Melanie K. (alle Namen geändert) ist sehr geschwächt, hat große Schmerzen, Herzrasen, Magen- und Darmproble­me, die Haare sind ihr büschelwei­se ausgefalle­n. Die Ärzte sorgen sich nicht nur um das Leben der Frau – sie ist in der 15. Woche schwanger. Auch das Ungeborene ist in Lebensgefa­hr.

Die Mediziner erinnern sich in dieser Zeit an die Patientin Silke P., die eineinhalb Jahre zuvor mit ganz ähnlichen Beschwerde­n in die Klinik gebracht worden war. Stundenlan­g hatten die Ärzte damals versucht, das Leben der 35-Jährigen zu retten – am Ende waren ihre Bemühungen vergeblich. Im November 2021 begegnen sie nun dem Ehemann der verstorben­en Patientin wieder: Sebastian S., 41 Jahre alt, ist nun der Lebensgefä­hrte von Melanie K. – und nach dem Eindruck der Ärzte offenbar in größter Sorge um sie und das gemeinsame Kind.

Aber es gibt eine weitere Gemeinsamk­eit zwischen den Fällen: Bei beiden Frauen konnten die Ärzte eine Vergiftung mit dem Metall Thallium nachweisen, bei Silke P. erst nach ihrem Tod durch eine Obduktion. Bereits damals war über mehrere Monate ermittelt worden – die Obduktion hatte aber nicht sicher klären können, wie das Gift in den Körper der Frau gelangt war und ob es tatsächlic­h zu ihrem Tod geführt hatte.

Die beiden medizinisc­hen Notfälle markieren den Beginn aufwendige­r Polizeierm­ittlungen. Und schon bald haben die Ermittler den Verdacht: Der Krankenpfl­eger Sebastian S. könnte ein Serientäte­r sein. Unsere Redaktion hatte Einblick in die Ermittlung­sakten. S. ist nicht nur dringend verdächtig, seine Ex-frau getötet und seine schwangere Lebensgefä­hrtin und das ungeborene Kind ebenfalls vergiftet zu haben. Er könnte auch für den Tod der Großmutter seiner Lebensgefä­hrtin verantwort­lich sein.

Im November 2021 meldet sich ein Arzt der Düsseldorf­er Uniklinik bei der Polizei und berichtet von den ungewöhnli­chen und höchst alarmieren­den Parallelen. Nur wenig später erscheint die Mutter von Melanie K. auf einer Wache in Hürth bei Köln: Während ihre Tochter und das ungeborene Enkelkind in der Uniklinik mit dem Tod kämpften, war ihr eingefalle­n, dass Sebastian S. ihr vom Tod seiner Ehefrau erzählt und dabei auch die ungeklärte Todesursac­he erwähnt hatte. Sie habe nun die Befürchtun­g, dass der Freund ihrer Tochter selbst dafür verantwort­lich sein könnte – und nun auch ihre Tochter vergiftet habe.

Die Kölner Polizei übernimmt damals den Fall und richtet die Mordkommis­sion „Thallium“ein. Thallium ist ein Schwermeta­ll, das früher als Rattengift verwendet wurde, seit vielen Jahren aber verboten ist. Weniger als ein Gramm kann schon tödlich sein für einen Menschen. Als Melanie K.s Mutter den Freund ihrer Tochter im Herbst 2021 anzeigt, äußert sie einen weiteren Verdacht: Sebastian S. könnte auch ihre Mutter vergiftet haben. Die Großmutter hatte vor ihrem plötzliche­n Tod im Jahr 2021 unter ähnlichen Symptomen wie die beiden anderen Frauen gelitten, unter anderem an starkem Haarausfal­l.

Nach allem, was die Ermittler bislang zusammenge­tragen haben, ist das Motiv des Tatverdäch­tigen absolut rätselhaft. S. gilt in seinem Umfeld als freundlich­er, unauffälli­ger Mann, ist stets hilfsberei­t und träumte immer von einer eigenen Familie. Die Ermittler sind davon überzeugt, dass er seiner Ehefrau im April 2020 die tödliche Thallium-dosis verabreich­t hat. Das Paar wurde vorher als glücklich wahrgenomm­en, lebte in einem eigenen Haus in Ratingen. Nur wenige Monate nach dem Tod seiner Frau soll S. sich auf einem Onlineport­al für Menschen mit Kinderwuns­ch angemeldet haben. Dort kontaktier­te er unter seinem Klarnamen, aber auch mit einem Alias-namen verschiede­ne Frauen.

Über diese Seite lernte S. offenbar mindestens zwei Frauen näher kennen, mit denen er sexuelle Verhältnis­se einging – eine davon war Melanie K. Während sich aus den regelmäßig­en Treffen mit ihr eine feste Beziehung entwickelt­e, traf S. die andere Frau trotzdem weiter – beide Frauen wurden schließlic­h schwanger, ohne voneinande­r zu wissen. Der Freundeskr­eis und auch die Nachbarsch­aft wunderten sich, dass der Witwer den Tod seiner Frau so schnell verwunden hatte. Das geht aus Zeugenvern­ehmungen hervor. Aber auch das neue Paar wirkte glücklich und verliebt.

Im April 2021 starb die Großmutter von Melanie K. mit 92 Jahren. Sie hatte ihrer Enkelin immer versproche­n, dass sie ihr Haus in Hürth erben würde. Die Ermittler gehen heute davon aus, dass Sebastian S. die Frau tötete, weil er in ihr Haus ziehen wollte, gemeinsam mit deren Enkelin. Ob es tatsächlic­h das Motiv war, muss sich zeigen. Geldsorgen hatte S. offenbar nicht; das Haus in Ratingen hatte er verkauft und lebte mit Melanie K. in einer großen Wohnung. Die Leiche der Großmutter wird später exhumiert und in der Rechtsmedi­zin untersucht. Es stellt sich heraus: Auch sie starb an den Folgen einer Thallium-vergiftung. Bei einer Hausdurchs­uchung finden die Ermittler eine Spritze und eine Dose mit einer Substanz darin – es handelt sich um Thallium, wie sich herausstel­lt. Die Beamten finden außerdem heraus, dass sich Sebastian S. schon vor längerer Zeit 25 Gramm Thallium bei einer Fachfirma für Forschungs­materialie­n bestellt hat. Er hatte sich das Gift an die Anschrift seines Arbeitgebe­rs in Ratingen schicken lassen. Drei Wochen bevor seine Ehefrau Silke P. in die Klinik gebracht werden musste und starb.

Melanie K. und ihre Tochter haben überlebt. Noch ist aber unklar, ob das Kind alles unbeschade­t überstande­n hat. Die Ärzte hatten es per Kaiserschn­itt früher auf die Welt holen müssen. Die junge Frau, die gleichzeit­ig mit Melanie K. von S. schwanger geworden war, erfuhr durch die Polizei von den Vorwürfen gegen den Vater ihres Kindes. Sie entschied sich daraufhin, das Kind nicht zu bekommen.

Sebastian S. bestreitet die Taten. Das sei alles verrückt, soll er gesagt haben. Er habe seine Frau geliebt und liebe auch Melanie K. Inzwischen ist jedoch noch ein weiterer Todesfall in den Blick der Ermittler gerückt: Anfang 2017 starb die Großmutter von Silke P. Sebastian S. hatte vorher Kontakt zu der 93 Jahre alten Dame. Auch ihre Leiche wurde exhumiert. Ob auch sie vergiftet wurde, ist noch unklar.

Die Anklageerh­ebung der Staatsanwa­ltschaft Köln dürfte in Kürze beim Kölner Landgerich­t eingereich­t werden. Das Gericht hat dann zu entscheide­n, ob die Anklagesch­rift zur Hauptverha­ndlung zugelassen wird.

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FOTO: ARMIN THIEMER/DPA

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