Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Trübe Aussichten in der Chemieindustrie
Die Umsätze im Kerngeschäft der einstigen Vorzeigebranche gehen zurück. Steigende Kosten belasten die Firmen.
Zu Jahresbeginn herrschte in der Chemiebranche noch Zuversicht angesichts der Umsatzzuwächse, mit denen der stark in NRW verwurzelte Industriezweig ins Jahr gestartet ist. Allerdings gingen diese auch auf Preiserhöhungen zurück. In der industriellen reinen Chemie sind die Geschäfte jedoch inzwischen rückläufig. Der Optimismus ist in den vergangenen Monaten verflogen, die Perspektiven haben sich stark eingetrübt. „Vom erhofften Aufschwung nach dem Corona-winter ist nichts mehr übrig geblieben“, beschrieb Christian Kullmann, Präsident des Verbandes der Chemischen Industrie ( VCI), die derzeitige Situation, als er am Dienstag in Frankfurt den VCI-BEricht zur wirtschaftlichen Lage der Branche im ersten Quartal des Jahres vorlegte.
Immerhin ist da unter dem Strich zu lesen, dass die Unternehmen aus Deutschlands drittgrößter Industriebranche das erste Quartal noch zufriedenstellend abschließen konnten. In Zahlen heißt das: Die Chemieunternehmen verzeichnen insgesamt ein Produktionswachstum von 1,3 Prozent im Vergleich zum Vorquartal. Allerdings ist auch das nicht unbedingt ein gutes Ergebnis für die Branche.
Denn zum einen fand der Produktivitätszuwachs vor allem in den Firmenhallen der Pharmaproduzenten statt. Die Pandemie hat etwa bei Impfstoffproduzenten die Anlagen ausgelastet – und so verzeichneten die Pharmaunternehmen ein vergleichsweise starkes Umsatzplus. Die reine Chemieproduktion dagegen war zwischen Januar und März um 1,1 Prozent rückläufig. „Die Nachfrage nach chemischen Produkten lässt nach. In Deutschland ist die Industrieproduktion im März deutlich zurückgegangen – dementsprechend sind auch weniger Chemikalien geordert worden“, sagte Vci-chefvolkswirt Henrik Meincke unserer Redaktion.
Zum anderen macht der allgemeine Preisauftrieb jedoch auch vor
Pharma- und Chemieunternehmen nicht halt: So haben sich chemische Produkte gegenüber dem Vorquartal um fast sieben Prozent verteuert. Gegenüber dem ersten Quartal 2021 beträgt die Preissteigerung sogar knapp 22 Prozent. Umsatzzuwächse in der Branche liegen also vor allem an höheren Preisen. Kurz: Es handelt sich eher um ein Nominal- statt um ein Realwachstum.
Auch machen die steigenden Energie- und Rohstoffkosten der Industrie zunehmend zu schaffen und trüben den Blick nach vorne: „Die Perspektiven unserer Branche sind wegen steigender Energie- und Rohstoffkosten zunehmend düster“, so Branchenverbandspräsident Christian Kullmann, zugleich Vorstandsvorsitzender des Essener Evonik-konzerns: „Außerdem drosseln industrielle Kunden wegen gestörter Lieferketten ihre Produktion und bestellen weniger Chemikalien.“Die Kapazitätsauslastung der Branche liege mit knapp 81 Prozent bereits unterhalb des Normalbereichs. Und der konjunkturelle
Tiefpunkt sei noch nicht einmal erreicht.
In vielen Firmen in Deutschlands drittgrößtem Industriezweig hinter der Autobranche und dem Maschinenbau herrsche Rezessionsstimmung. Verstärkt wird der Pessimismus durch die Tatsache, dass es den Unternehmen zunehmend schwerfällt, eigentlich anstehende Preiserhöhungen an Kunden weiterzugeben. Dann aber bleiben den Unternehmen weniger Margen.
Am meisten Sorgen machen sich Chemieunternehmen angesichts eines möglichen Gas-embargos oder eines Stopps von Gaslieferungen aus Russland. Die hätten zusätzliche, verheerende Auswirkungen auf die Branche. Eine Prognose für das weitere Jahr hat der VCI diesmal in seinem Bericht nicht mitgeliefert. Wegen der unabsehbaren Folgen des Kriegs in der Ukraine und der Null-covid-strategie Chinas könne man keine Vorhersage für das Jahr 2022 treffen. Seine ursprünglichen Ziele hatte der Verband bereits im März kassiert.