Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Jeder Schritt zählt
Für viele Hobbysportler sind 10.000 Schritte am Tag das Maß der Dinge. Fitness- und Ernährungsexperten sagen, das sei der perfekte Richtwert für ausreichende Bewegung. Doch stimmt das? Und woher kommt diese Grenze?
Ob joggen, spazieren oder walken – wer heute zu den Sportschuhen greift, hat oft auch technisches Equipment dabei. Kaum ein Läufer geht heute noch ohne GPS-UHR vor die Tür. Zumindest ein Schrittzähler muss es sein. Die gibt es mittlerweile in allen Ausführungen und Preisklassen. Selbst Kinder tragen heute solche Fitnessarmbänder. 10.000 Schritte – das ist für die allermeisten Hobbysportler das Maß der Dinge. Wer die täglich schafft (und das ist gar nicht so einfach), tut seiner Gesundheit etwas Gutes und beugt zudem Krankheiten wie etwa Altersdiabetes vor. So schreibt es etwa auch die Deutsche Gesellschaft für Sportmedizin (DGSP). Die Universität Düsseldorf hat erst kürzlich das Bewegungsprogramm „10.000 Schritte Düsseldorf“gestartet, um die Menschen mobil zu machen.
In jedem Fall ist das Programm eine gute Sache. Denn wer sich bewegt, bringt nicht nur den Stoffwechsel und sein Herz-kreislaufSystem auf Trab. Er trainiert auch seine Muskeln, stärkt Knochen, Psyche und Immunabwehr. Was die positiven Effekte von Bewegung angeht, sprechen Medizin und Wissenschaft aus einem Munde.
Aber müssen es genau diese 10.000 Schritte sein? Das darf bezweifelt werden, denn diese Zahl ist eher zufällig zum Trend geworden: „Die 10.000 Schritte waren ursprünglich ein Marketing-gag“, sagt Heribert Brück, Facharzt für Innere Medizin und Kardiologie aus Erkelenz. Und der ist schon vor ein paar Jahrzehnten entstanden: „Zu den Olympischen Spielen in Tokio kam der erste transportable Schrittzähler auf den Markt. Er hieß damals Manpo-kei, was übersetzt in etwa „Zählen von 10.000 Schritten“bedeutet, erklärt Brück. Der Hersteller, die Firma Yamasa, warb damals damit, diese Anzahl sei gesund und Ausdruck eines gesunden Lebensstils. Das war 1964. Bis heute hat sich die magische Grenze gehalten. Selbst die Weltgesundheitsorganisation WHO hält sich in ihren Empfehlungen daran.
Dabei sind 10.000 Schritte als gesundheitlicher Richtwert wissenschaftlich nicht bewiesen. „Studien belegen eher, dass auch schon eine niedrigere Anzahl von Schritten positive Effekte für die Gesundheit hat“, sagt Kardiologe Brück. 2019 erschien etwa im Fachblatt „Jama Internal Medicine“eine Studie zum Zusammenhang zwischen der Schrittzahl und dem Sterberisiko. 16.000 Frauen mit einem Durchschnittsalter von 72 Jahren nahmen daran teil. Das Ergebnis: Unter denjenigen, die mindestens 4400 Schritte täglich absolviert hatten, nahm die Sterberate merkbar ab. Dieser Effekt steigerte sich bis zu etwa 7500 Schritten pro Tag. „Darüber hinaus war kein zusätzlicher positiver Effekt messbar“, sagte Brück. Offensichtlich nicht profitabel waren dagegen tägliche Schrittzahlen von weniger als 2700. Auch andere Arbeiten zeigten, dass wohl 7000 bis 8000 Schritte täglich einen gesundheitlichen Nutzen bringen, so Brück.
Eine weitere Studie aus dem Jahr 2020 stützte diese Ergebnisse. Auch hier stellten sich vor allem zwei Erkenntnisse heraus. Brück: „Zum einen scheint die 4000 wohl ein Knackpunkt zu sein, ab dem ein positiver Nutzen messbar wird.“Zum anderen sei wohl besonders die Schrittzahl zwischen 4000 und 8000 effektiv für einen gesundheitlichen Nutzen.
7500 Schritte täglich sind also ein gutes Maß, um das körperliche Wohlbefinden zu fördern. Das entspricht je nach Schrittlänge bei einem Erwachsenen einer Strecke von rund fünf Kilometern. Aber wie erreicht man die im Alltag, wenn man etwa den ganzen Tag am Schreibtisch im Homeoffice sitzt? „Das ist gar nicht so einfach“, räumt Internist Brück ein. Tipps, etwa die Treppe statt den Aufzug zu nehmen oder mit dem Rad statt dem Auto zu fahren, kennt jeder.
„Es geht darum, Taktiken zu entwickeln, wie man Bewegung im Alltag integrieren kann“, sagt Brück. Als Internist unterstützt er ohnehin jegliche Art von Bewegung – in jedem Alter. „Es profitieren alle“, sagt er. „Wer ein Fitnessarmband oder einen Schrittzähler tragen möchte, den unterstütze ich.“Denn oftmals sei ein solches Gerät auch ein Ansporn, sich mehr zu bewegen. „Meine Erfahrung aus der Praxis ist, dass Menschen, die solche Tracker nutzen, generell aktiver sind“, meint Brück. Und auch in Sachen Genauigkeit haben die heutigen Geräte einen Quantensprung gegenüber dem Ursprungsgerät gemacht: Das umständliche Messen der Schrittlänge ist längst passé.
Natürlich können die gezählten Schritte immer nur ein Richtwert sein. Denn ein Schrittzähler kann nicht messen, wie sehr wir uns anstrengen, während wir eine bestimmte Strecke zurücklegen. Es kommt aber immer auch ein Stück weit auf die Intensität der zurückgelegten Schritte an. Heribert Brück: „Wer seine Leistungsfähigkeit verbessern möchte, muss sich ab und an auch mal anstrengen und den Puls nach oben treiben.“
Für Übergewichtige oder bewegungsfaule Menschen ist es aber erst einmal das Wichtigste, überhaupt regelmäßig in Bewegung zu kommen. Wie die DGSP schreibt: „Jeder noch so kleine Schritt weg vom Bewegungsmangel ist wichtig und fördert die Gesundheit. Jeder Schritt zählt“. Es müssen ja nicht gleich 10.000 sein.