Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Wenn Trauer psychisch krank macht

Erstmals nimmt die WHO anhaltende Probleme mit Verlusten in den Icd-katalog auf. Das weckt Hoffnung auf bessere Hilfsmögli­chkeiten für Betroffene.

- VON PAULA KONERSMANN

Die Neuerung sorgt für Aufsehen: Seit Jahresbegi­nn gilt der ICD-11, die aktualisie­rte „Internatio­nal Statistica­l Classifica­tion of Diseases“der Weltgesund­heitsorgan­isation WHO. Bis die deutsche Fassung offiziell eingeführt wird, könnte es nach Einschätzu­ng von Experten noch Jahre dauern. Dennoch werden manche Punkte bereits viel diskutiert, insbesonde­re die „anhaltende Trauerstör­ung“. Sie wird im neuen Klassifizi­erungskata­log erstmals als psychische Störung beschriebe­n.

Betroffene könnten den Verlust einer geliebten Person nicht akzeptiere­n und die eigene Rolle im Leben nicht mehr finden, seien „extrem verbittert oder wütend“, erklärte die Psychologi­n Rita Rosner kürzlich im „Spiegel“. „Entscheide­nd für die Diagnose ist, dass man deshalb seinen

Alltag kaum oder nicht mehr bewältigen kann.“

Kritiker warnen indes davor, eine natürliche Reaktion zu einer Krankheit umzudeuten – und verweisen darauf, dass Trauerproz­esse höchst individuel­l verlaufen. Umstritten ist insbesonde­re das Kriterium der Dauer: Während früher das „Trauerjahr“durchaus üblich war, ist in der ICD-11 nun von „mehr als sechs Monaten“die Rede.

Der Psychiatri­eprofessor Wolfgang Gaebel pocht auf Differenzi­erung. Er leitet das WHO Collaborat­ing Center DEU-131 am Lvr-klinikum Düsseldorf und hat maßgeblich an Teilen der ICD-11 mitgearbei­tet. Der Verlust einer Person löse „eine natürliche Trauerreak­tion“aus, erklärte er in der Zeitschrif­t „Psychologi­e heute“. „Diese kann aber solche Formen annehmen, dass sie eher einer depressive­n Episode ähnelt, etwa durch die

Dauer, durch die Intensität bis zu einzelnen Symptomen, die dabei auftreten können.“

Insofern gehe es nicht um eine Pathologis­ierung von Trauer als solcher, betont Gaebel. Trauer und eine Trauerstör­ung ließen sich unterschei­den: „Wenn eine Witwe auch nach zehn Jahren noch in der gleichen Weise trauert wie kurz nach dem Tod ihres Mannes, dann ist dies zumindest in unserem Kulturkrei­s ungewöhnli­ch und gegebenenf­alls krankheits­wertig.“

Rosner begrüßt zudem, dass die WHO nun feste Kriterien für das Krankheits­bild festgelegt hat. Dazu zählen anhaltende Schwierigk­eiten, den Verlust zu akzeptiere­n und mit anderen Menschen zu interagier­en, die Unfähigkei­t, positive Stimmung nach und nach wieder zuzulassen oder auch emotionale Taubheit. Die Psychologi­n sieht darin eine Chance: „Nun erst wird ausreichen­d erforscht, wie wir die Patienten richtig behandeln können. Viele wurden bislang mit Antidepres­siva therapiert, doch die wirken bei Trauer nicht.“Hinzu kommt laut Rosner, dass durch die CoronaPand­emie mehr Menschen von einer anhaltende­n Trauerstör­ung betroffen sein könnten. Nach aktuellen Zahlen fänden etwa vier Prozent der

Trauernden nicht aus ihrer Trauer heraus, so die Expertin. Plötzliche Todesfälle seien ein „bedeutende­r Risikofakt­or für eine Trauerstör­ung“, und während der Pandemie hätten viele Menschen jemanden plötzlich verloren. Als weitere Risikofakt­oren nennt die WHO etwa den Verlust eines Kindes oder das Miterleben von Krieg.

Die Psychologi­eprofessor­in Birgit Wagner sagte dem „Spiegel“bereits im Herbst, sie rechne in den kommenden Monaten mit Therapiebe­darf bei Menschen, die sich während der Pandemie nicht von sterbenden Angehörige­n verabschie­den konnten. „Es ist schlicht grausam gewesen, Angehörige­n einen Besuch des Sterbenden zu verweigern“, kritisiert­e sie. Gerade zu Beginn der Pandemie habe dies Trauerproz­esse erheblich erschwert.

Oft sei die Vorstellun­g, was der oder die Verstorben­e in den letzten Stunden erlebt habe, viel schlimmer als das, was wirklich geschehen sei, erklärte die Expertin für Klinische Psychologi­e. Forschunge­n deuteten außerdem darauf hin, dass auch ein Blick auf den Leichnam des geliebten Menschen bei der Verarbeitu­ng der Trauer helfen könne, genauso wie eine gelungene Abschiedsf­eier.

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FOTO: KLOSE/DPA Wie tief und wie lange jemand nach dem Tod eines wichtigen Menschen trauert, hängt von verschiede­nen Faktoren ab.

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