Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Wenn Trauer psychisch krank macht
Erstmals nimmt die WHO anhaltende Probleme mit Verlusten in den Icd-katalog auf. Das weckt Hoffnung auf bessere Hilfsmöglichkeiten für Betroffene.
Die Neuerung sorgt für Aufsehen: Seit Jahresbeginn gilt der ICD-11, die aktualisierte „International Statistical Classification of Diseases“der Weltgesundheitsorganisation WHO. Bis die deutsche Fassung offiziell eingeführt wird, könnte es nach Einschätzung von Experten noch Jahre dauern. Dennoch werden manche Punkte bereits viel diskutiert, insbesondere die „anhaltende Trauerstörung“. Sie wird im neuen Klassifizierungskatalog erstmals als psychische Störung beschrieben.
Betroffene könnten den Verlust einer geliebten Person nicht akzeptieren und die eigene Rolle im Leben nicht mehr finden, seien „extrem verbittert oder wütend“, erklärte die Psychologin Rita Rosner kürzlich im „Spiegel“. „Entscheidend für die Diagnose ist, dass man deshalb seinen
Alltag kaum oder nicht mehr bewältigen kann.“
Kritiker warnen indes davor, eine natürliche Reaktion zu einer Krankheit umzudeuten – und verweisen darauf, dass Trauerprozesse höchst individuell verlaufen. Umstritten ist insbesondere das Kriterium der Dauer: Während früher das „Trauerjahr“durchaus üblich war, ist in der ICD-11 nun von „mehr als sechs Monaten“die Rede.
Der Psychiatrieprofessor Wolfgang Gaebel pocht auf Differenzierung. Er leitet das WHO Collaborating Center DEU-131 am Lvr-klinikum Düsseldorf und hat maßgeblich an Teilen der ICD-11 mitgearbeitet. Der Verlust einer Person löse „eine natürliche Trauerreaktion“aus, erklärte er in der Zeitschrift „Psychologie heute“. „Diese kann aber solche Formen annehmen, dass sie eher einer depressiven Episode ähnelt, etwa durch die
Dauer, durch die Intensität bis zu einzelnen Symptomen, die dabei auftreten können.“
Insofern gehe es nicht um eine Pathologisierung von Trauer als solcher, betont Gaebel. Trauer und eine Trauerstörung ließen sich unterscheiden: „Wenn eine Witwe auch nach zehn Jahren noch in der gleichen Weise trauert wie kurz nach dem Tod ihres Mannes, dann ist dies zumindest in unserem Kulturkreis ungewöhnlich und gegebenenfalls krankheitswertig.“
Rosner begrüßt zudem, dass die WHO nun feste Kriterien für das Krankheitsbild festgelegt hat. Dazu zählen anhaltende Schwierigkeiten, den Verlust zu akzeptieren und mit anderen Menschen zu interagieren, die Unfähigkeit, positive Stimmung nach und nach wieder zuzulassen oder auch emotionale Taubheit. Die Psychologin sieht darin eine Chance: „Nun erst wird ausreichend erforscht, wie wir die Patienten richtig behandeln können. Viele wurden bislang mit Antidepressiva therapiert, doch die wirken bei Trauer nicht.“Hinzu kommt laut Rosner, dass durch die CoronaPandemie mehr Menschen von einer anhaltenden Trauerstörung betroffen sein könnten. Nach aktuellen Zahlen fänden etwa vier Prozent der
Trauernden nicht aus ihrer Trauer heraus, so die Expertin. Plötzliche Todesfälle seien ein „bedeutender Risikofaktor für eine Trauerstörung“, und während der Pandemie hätten viele Menschen jemanden plötzlich verloren. Als weitere Risikofaktoren nennt die WHO etwa den Verlust eines Kindes oder das Miterleben von Krieg.
Die Psychologieprofessorin Birgit Wagner sagte dem „Spiegel“bereits im Herbst, sie rechne in den kommenden Monaten mit Therapiebedarf bei Menschen, die sich während der Pandemie nicht von sterbenden Angehörigen verabschieden konnten. „Es ist schlicht grausam gewesen, Angehörigen einen Besuch des Sterbenden zu verweigern“, kritisierte sie. Gerade zu Beginn der Pandemie habe dies Trauerprozesse erheblich erschwert.
Oft sei die Vorstellung, was der oder die Verstorbene in den letzten Stunden erlebt habe, viel schlimmer als das, was wirklich geschehen sei, erklärte die Expertin für Klinische Psychologie. Forschungen deuteten außerdem darauf hin, dass auch ein Blick auf den Leichnam des geliebten Menschen bei der Verarbeitung der Trauer helfen könne, genauso wie eine gelungene Abschiedsfeier.