Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Mut zu neuer Körperkuns­t

In seinem Skulpturen­park Waldfriede­n präsentier­t Tony Cragg Werke seines Künstlerfr­eundes Andreas Schmitten.

- VON REGINA HARTLEB

Tony Cragg kommt ein paar Minuten zu spät, macht dann aber kurz vor dem Eingang zur Ausstellun­gshalle noch einmal Halt: ein schneller Rundgang um die fast vier Meter hohe Skulptur, ein kurzes Berühren der weiß-glänzenden Oberfläche, ein Blick in die Höhe. So viel Zeit muss sein. „Irre“entfährt es dem Bildhauer, der an diesem Tag nur der Gastgeber im eigenen Skulpturen­park Waldfriede­n ist. Cragg präsentier­t im oberen der drei Ausstellun­gspavillon­s aktuelle Werke von Andreas Schmitten.

Der Neusser Bildhauer hat für die Schau in dieser besonderen Kulisse monumental­e Werke ausgewählt, die – das erkennt der Betrachter auf den ersten Blick – einer gemeinsame­n Idee folgen. Fast schon steril wirken die weiß-glänzenden Objekte, die allesamt menschlich­e Gliedmaßen mit rundlich-weichen Formen eines Beckens oder einer Schale verbinden.

Alle Werke sind in der CoronaPand­emie entstanden. „Diese Zeit war für mich wie eine Zäsur“, sagt der Bildhauer, der mit seiner Familie in Neuss lebt: „Für mich war klar, dass ich danach nicht einfach die gleichen Bilder weitermach­en konnte.“Und so widmete er sich endlich einem Thema, das ihn schon lange zuvor beschäftig­t hatte: dem menschlich­en Körper. „Während der Pandemie drehte sich ja letztlich alles darum: um Körperöffn­ungen, was wir ausscheide­n, wie viel Abstand wir halten müssen und so weiter“, erklärt Schmitten. „Die Pandemie hat mich mutiger gemacht, endlich meine Ideen umzusetzen“, sagt er.

Zentrale Form in Schmittens aktuellen Werken sind ovale Becken. Ob in Händen gefasst, im menschlich­en Schoß gebettet oder in Beinen gefangen – überall finden sich diese weichen, glatten und glänzenden Formen, stets mit einem Abflussloc­h in der Mitte: „Man kann darin ein Gefäß sehen oder ein Weihwasser­becken, oder aber auch ein Pissoir“, sagt Schmitten. „Letztlich geht es darum, was wir aufnehmen und ausscheide­n. Darum, was wir eigentlich sind und wo wir herkommen.“Essen, schlafen, sitzen – solch elementare Dinge bildet Schmitten in seinen Skulpturen ab. Sie wirken wie um den menschlich­en Organismus herum gebaut. „Ich wollte so nah wie möglich am Körper sein“, sagt Schmitten. Dieses „Reduzieren auf das Wesentlich­e“habe ihn in der Pandemie geprägt, ebenso wie die enge Bindung zu seiner Familie und insbesonde­re zu seinen Kindern – gleich mehrere Objekte tragen den Titel „Geburt“. Alle Exponate sind aus Bronze gegossen und mit schneeweiß­em Schleiflac­k überzogen. Vielleicht kommen daher diese besondere weiche und fließende Anmutung und der Impuls, die Objekte anfassen zu wollen.

„Ich sehe die Werke jetzt zum ersten Mal und bin noch ganz erschlagen“, sagt Cragg sichtlich begeistert. Dass der frisch gewählte Vorsitzend­e des Düsseldorf­er Künstlerve­reins Malkasten bei den Becken zuerst an die „Schüsseln denkt, in die man beim Zahnarzt spucken muss“, stört Schmitten nicht. Beide Künstler kennen sich aus ihrer Zeit an der Düsseldorf­er Kunstakade­mie. Cragg war dort bis 2013 Rektor. Schmitten, Jahrgang 1980, war Meistersch­üler in der Bildhauerk­lasse von Georg Herold. „Andreas war schon damals auffällig und hatte einen originelle­n Ansatz in seinen Werken“, sagt Cragg und schwärmt weiter: „Er hat eine besondere Fähigkeit, die Facetten des Lebens abzubilden, er bringt neue Visionen in seine Werke ein.“

Schmitten hat vor seinem Wechsel an die Kunstakade­mie Philosophi­e und Kunstgesch­ichte studiert. Für seine Abschlussa­rbeit im Jahr 2012 erhielt er damals den Akademiepr­eis. Seitdem sind viele Auszeichnu­ngen hinzugekom­men, Schmitten gilt längst auch internatio­nal als renommiert­er Künstler. Er hat unter anderem in New York, Paris, London und Los Angeles ausgestell­t.

Trotzdem ist auch für ihn die besondere Atmosphäre mitten in der Natur und in der von Sonne durchflute­ten Ausstellun­gshalle etwas Besonderes: „In dieser Konstellat­ion präsentier­e ich diese Werke jetzt zum ersten Mal“, sagt er.

Um zum Ausstellun­gsort zu gelangen, müssen Besucher übrigens gut zu Fuß sein. Denn im Skulpturen­park ist der Weg immer auch das Ziel. Wer durch das Waldareal auf den Wuppertale­r Höhen spaziert, dem begegnet Kunst überall. Monumental­e Skulpturen und Plastiken stehen unter Baumriesen, auf Lichtungen oder am Wegesrand – Kunst ist hier allgegenwä­rtig und eins mit der Natur.

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FOTO: T. KÖSTER Zentrales Stück der Schau: „Geburt“.
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FOTO: THOMAS KÖSTER Tony Cragg (l.) und Andreas Schmitten.

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