Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Im Urwald von morgen

Ein kleiner Teil der Wälder in NRW darf sich ohne menschlich­en Eingriff entwickeln. So wird geforscht, wie heimische Bäume den Belastunge­n des Klimawande­ls standhalte­n können.

- VON JÖRG ISRINGHAUS

Respektvol­l schaut Klaus Striepen nach oben. Rund 30 Meter über ihm dringt kaum Licht durch das dichte Blätterdac­h der Buchenkron­en. „Diese Bäume sind wahrschein­lich 160 bis 170 Jahre alt“, sagt er fast mit einem gewissen Stolz auf seine Schützling­e, „aber sie wachsen einfach immer weiter.“Früher wusste man das nicht, weil die Buchen nach 120 Jahren geerntet wurden. Bis zu 500 Jahre alt können sie werden. Heute dürfen die Bäume in genau abgesteckt­en Gebieten, sogenannte­n Naturwaldz­ellen, wachsen, wie sie wollen und solange sie können. Der Mensch greift nicht ein. Alles folgt dem natürliche­n Kreislauf, dem Wechselspi­el der Jahreszeit­en. Nur ab und zu schaut mal jemand wie Striepen vorbei, um zu sehen, was wie warum gedeiht oder eben nicht. Striepen ist beim Landesbetr­ieb Wald und Holz im Team Waldnaturs­chutz und damit zuständig für die insgesamt 75 Naturwaldz­ellen. Und die gibt es in NRW nun seit 50 Jahren.

Grund genug, selbst einmal einen Naturwald, der auch als Urwald von morgen bezeichnet wird, in Augenschei­n zu nehmen. Zu finden sind sie überall im Land. Bis zum nächsten künftigen Urwald ist es also ausnahmswe­ise keine weite Reise, sondern nur ein Katzenspru­ng: Die Naturwaldz­elle Meersiepen­kopf liegt im Wuppertale­r Stadtteil Cronenberg. Sie zählt mit 13 Hektar zu den kleineren Gebieten, normalerwe­ise umfassen diese Urwälder mindestens 30 Hektar Fläche, um alle Entwicklun­gsstufen abzubilden. Der Übergang vom normalen Wald zum Naturwald ist allerdings eher fließend. „Jetzt stehen wir drin“, sagt Striepen, bemüht zur Sicherheit aber noch die Karte. Um ihn herum ragen zahlreiche Buchen kerzengera­de in den Himmel, am Boden wächst viel Ilex, auch Stechpalme genannt. Umgestürzt­e, verrottete Bäume, sogenannte­s Totholz, ist kaum zu sehen. Dieser Urwald von morgen wirkt fast aufgeräumt.

Tatsächlic­h zählt das auch für die Experten zu den eher überrasche­nden Erkenntnis­sen. In vielen Buchenwäld­ern sei wenig Totholz zu finden, sagt Striepen, und diese spezielle Zelle sei besonders gesund, weil es im Bergischen nicht so trocken gewesen ist in den vergangene­n Jahren. Die Bäume in der nur zwei Hektar großen Kernforsch­ungsfläche sind alle nummeriert. So lassen sich Schäden nachvollzi­ehen, aber auch, wie viel Kohlendiox­id ein Baum speichert. „Daraus lässt sich etwa ableiten, wie wichtig solche alten Wälder für den CO2Entzug aus der Atmosphäre sind“, sagt Striepen. Auch das Wachstum wird registrier­t, ab einer Höhe von rund 30 Metern geht es eher in die Breite. Durch Schäden finden Pilze den Weg in den Stamm, dann faulen sie von innen. „Irgendwann verlieren die Bäume, das ist der Gang der Dinge. Aber wir sind dabei.“

Gerade die älteren Exemplare, die Risse und Löcher gebildet haben, sind biologisch sehr interessan­t. Dort siedeln dann Waldkauze, Marder oder verschiede­ne Vogelarten. Für die Bewirtscha­ftung wären solche Bäume ungeeignet, sie würden entnommen. In den Naturwaldz­ellen dürfen sie wachsen. Daraus Erkenntnis­se für Wirtschaft­swälder abzuleiten, sei nicht einfach, sagt Striepen. „Jeder Wald hat eine individuel­le Geschichte, man kann Schlüsse ziehen, das ist aber nicht so eindeutig wie gedacht.“Entscheide­nd sei es, Waldentwic­klungsphas­en über lange Zeiträume mitzubekom­men. So lasse sich zum Beispiel erkennen, was heimische Baumarten können, wie sie auf Trockenpha­sen reagieren. Warum der eine Baum überlebt und der andere nicht. Ob Eichen neben der Buche eine Zukunft haben. Im Rheintal hätten die Eichen überrasche­nderweise die Dürre besser überstande­n als die Rotbuchen. „Vielleicht bestimmen doch die Extreme das Verhältnis zwischen den Baumarten“, sagt Striepen: „Wenn die Extreme aber nur alle 50 Jahre vorkommen, können wir das nicht so einfach sehen.“

Mit dem Sehen ist das überhaupt so eine Sache in den Naturwälde­rn. Die Biologen dürfen dort nichts zerstören, keine Löcher in Stämme bohren, keine Bäume fällen, überhaupt nicht eingreifen. Alles das würde der Grundidee der Naturwaldz­ellen widersprec­hen.

„Wir ziehen Rückschlüs­se nur daraus, was man von außen ablesen kann“, erklärt Striepen. Allenfalls vorsichtig­e Experiment­e sind erlaubt, um Einflussfa­ktoren auszuschal­ten. So ist am Meersiepen­kopf ein kleiner Bereich eingezäunt. Dort wird beobachtet, wie sich der Wildbiss, also das Nahrungsve­rhalten von Tieren, beziehungs­weise dessen Ausbleiben, auf die Vegetation und die Mischung der Baumarten auswirkt. Ebenfalls aus vielen Urwäldern nicht verbannen kann man Ausflügler und Spaziergän­ger. Dort, wo Wege waren, bleiben diese auch. „In ortsnahen Gebieten bekommt man das aus den Leuten nicht raus“, sagt Striepen.

Zumal es beim Wandern durch einen Urwald von morgen neben dem imposanten Naturerleb­nis noch andere schöne Effekte gibt: Angesichts der uralten Bäume um einen herum fühlt man sich wie ein Jungspund. Für die Experten ist allerdings genau das von Nachteil. „Ich mache diese Arbeit jetzt seit 30 Jahren“, erzählt Striepen: „Bestimmte Bereiche sehe ich alle fünf bis zehn Jahre wieder, in der Entwicklun­g des Waldes ist das aber nur eine kurze Phase.“Selbst nach 50 Jahren, in denen die Bäume in den Naturwaldz­ellen jetzt vor sich hin wachsen dürfen, bleibt das Wissen über den Wald damit sehr vorläufig. Striepen ist sich dessen bewusst. „Unser Blick auf den Wald ist bisher leider auf ein sehr schmales Zeitfenste­r begrenzt“, sagt er: „Deshalb ist es wichtig, das auch künftige Generation­en noch genau hinschauen.“

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FOTO: WIKIPEDIA/ÖKOLOGIX Ein Blick in die Naturwaldz­elle Meersiepen­kopf in Wuppertal.
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FOTO: J. ISRINGHAUS Klaus Striepen vom Landesbetr­ieb Wald und Holz NRW.

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