Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Eine Bühne des Lebens

Wer schon einmal im Freibad ganz oben auf dem Sprungturm stand – den Geruch von Chlor, Pommes und Sonnencrem­e in der Nase – und nach unten gestürzt ist, vergisst das sein Leben lang nicht. Warum ist das so?

- VON JONAS-ERIK SCHMIDT

(dpa) Eine Geschichte über Sprungtürm­e muss mit einem Aufstieg beginnen. Groß und mächtig steht er da, azurblau beschienen. Vier kalte, metallisch­e Leitern sind zu besteigen, bis man die Welt von oben sehen kann. Und merkt, wie sich ganz langsam ein flaues Gefühl in der Magengegen­d ausbreitet.

Der Zehnmetert­urm im Stadionbad von Köln ist einer jener Orte, an die man sich ein Leben lang erinnert, wenn man einmal oben war – und vor allem fliegend wieder herunterge­kommen ist. Vor fast 100 Jahren weihte hier noch Konrad Adenauer die erste Schwimmanl­age ein. Seitdem haben sich unzählige Menschen mit Todesmut in den Augen ins Wasser gestürzt. Nun, im Sommer, geht es wieder los. In Köln, aber auch in vielen anderen Bädern der Republik.

„Die Botschaft ist: Du gehörst zu denen, die es sich trauen“

Simon Hahnzog Psychologe

Warum fasziniere­n uns Sprungtürm­e? Kurze Nachfrage am Beckenrand. Tom, 22 Jahre alt, ist gerade wieder aufgetauch­t, um den Hals trägt er eine Kette mit einer Muschel. „Surfer-vibe“nennt er das. „Dieses Gefühl, frei in der Luft zu sein, ein bisschen zu winken“, sagt er, das sei das Tolle am Sprung: „Es kommt einem länger vor, als es ist.“

Der Psychologe Simon Hahnzog sagt, schon das Freibad sei ein sehr besonderer Ort. Einer der wenigen, an dem sich verschiede­ne Gesellscha­ftsschicht­en vermischte­n, diese aber nicht sofort an Äußerlichk­eiten zu erkennen seien. Den Sprungturm selbst könne man wiederum in eine Reihe mit der Taufe stellen. Er sei Ort eines Initiation­sritus.

„Über den Sprungturm kann man einen gesellscha­ftlichen Status erlangen“, sagt Hahnzog: „Die Botschaft ist: Du gehörst zu denen, die es sich trauen.“Der Vorteil am Turm: Der Übertritt in die Liga der Furchtlose­n ist sofort für jedermann sichtbar. Wer auf dem Zehner steht, weiß alle Augen auf sich. Der Sprungturm ist eine Bühne des Lebens.

Selbst im hohen Alter lassen Erinnerung­en daran Emotionen aufsteigen, mitunter auch nostalgisc­he Wärme – zumindest wenn der Aufstieg mit einem Sprung endete, nicht in der Schmach des Wiederabst­iegs.

„Emotionen werden gerne situations­spezifisch gespeicher­t“, erklärt Hahnzog. Und in einem Freibad prasselten die Sinneseind­rücke nur so auf uns ein – Chlor, Sonnencrem­e, Pommes. „Diese verknüpfen sich mit Emotionen – zum Beispiel mit dem Glück, wenn man gesprungen ist“, so der Psychologe. Darüber hinaus wird dieses intensive Erinnerung­en-bouquet auch noch in einer sehr prägenden Lebensphas­e zusammenge­bunden. Denn – man kommt um diesen Hinweis nicht drumherum – wer klettert auf den Sprungturm? Oft Menschen kurz vor, mitten in oder kurz nach der Pubertät.

Wobei man aus der Praxis auch anderes hört. „Wir haben auch Leute dabei, die gehen mit 60, 70 und 80 noch da oben drauf und zeigen den Jungen, was sie können. Da machen die vom Fünfer einen Abfaller, vorwärts, rückwärts. Da stehen den Jungen dann die Backen ganz weit auf, was die noch auf die Kette kriegen“, sagt Wolfgang Werthschul­te. Rund 45 Jahre lang war er Bademeiste­r in Kempen („Ich habe das flächengrö­ßte Freibad vom Niederrhei­n geleitet“). Seit Kurzem ist er in Rente.

Für ihn sei immer klar gewesen: Am Sprungturm müssen feste Regeln gelten. Chaos, das ist gefährlich. Werthschul­te sagt auch: Zum Springen gehen tatsächlic­h alle. Die Alten, aber auch die Kleinen, die zeigen wollen, wie mutig sie schon sind. „Papa steht dann da oben, und ihm schlottern die Knie. Aber er muss ja dann auch.“

Wenn man Werthschul­te fragt, auf was man beim Springen achten sollte, redet er ein wenig wie ein Luft- und Raumfahrti­ngenieur bei der Präsentati­on eines neuen Flugkörper­s. „Der Kopf steuert die Flugrichtu­ng“, sagt er dann im ernsten Ton: „Wichtig ist, dass man das Kinn nicht zu sehr runternimm­t. Dann überschläg­t man sich.“Und was sollte man auf keinen Fall machen? „Es ist ungeschick­t, breitbeini­g zu springen“, sagt der ehemalige Schwimmmei­ster.

Womit man tatsächlic­h am Ende einer Geschichte über Sprungtürm­e ankommt, ohne ein Wort genannt zu haben, das eigentlich fallen muss: Arschbombe. Aber der Sommer ist ja noch lang.

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FOTO: OLIVER BERG/DPA Sprungtürm­e wie der im Kölner Stadionbad sind für viele junge Menschen auch ein Ort der Initiation.

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