Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Campino erobert sich die Bühne zurück

Der Tourstart der Toten Hosen in Köln war ein großes Comeback. In die Wiedersehe­nsfreude mischten sich auch nachdenkli­che Töne.

- VON PHILIPP HOLSTEIN

Knapp anderthalb Stunden läuft das Konzert bereits, als sich die Dunkelheit über das ausverkauf­te Rheinenerg­iestadion legt. Bis auf Drummer Vom Ritchie kommt die Band geschlosse­n nach vorne an den Bühnenrand. Sie beginnt ein Lied, jeder hier kennt es, 40.000 Menschen heben ihre Arme. Campino stellt seinen linken Fuß auf einen Monitor, das rechte Bein drückt er stramm durch, das Kinn reckt er vor, er will ganz weit raus ins Publikum. Rotes Licht zuckt von der Bühne über die pogenden Fans, der Anblick erinnert an brodelnde Lava, Masse in Bewegung. Sie wissen, was gleich kommt, der Lärm ist enorm, aber die Stimme des Sängers sticht heraus, es ist so weit. „Hey“, schreit er, den Rest nehmen sie ihm ab. Sie antworten, sie werfen sein Lied zurück, sie rufen: „Hier kommt Alex“.

Die Toten Hosen treten in Köln auf, und es ist ein doppeltes Comeback. Vor drei Jahren gab die Gruppe ihre letzten Konzerte, dann kam Corona, und erst jetzt kehren Musiker und Fans zurück in die Arenen. Das ist also so etwas wie Familienzu­sammenführ­ung, wie Reha-abschlussf­eier und Kick-off-meeting für künftige Ekstasen. Jedenfalls: endlich wieder im Plural dastehen. Wir sein im Sound. „Ihr glaubt gar nicht, wie froh wir sind, überhaupt noch da zu sein“, sagt Campino. „Und dass ihr da seid, ist ein Riesengesc­henk.“

Den Toten Hosen merkt man an, dass dieser Tourauftak­t ein besonderer Abend ist. Sie feiern mit den Konzerten ja auch ihren 40. Geburtstag, und Campino läuft direkt so hochtourig, dass man sich fragt, wie er das durchhalte­n will. Er rennt auf und ab, man kann ihm dabei zusehen, wie er sich die Bühne zurückerob­ert, wie er allmählich in die Überlebens­größe wechselt. Andi grinst, als freue er sich, dass alle da sind. Kuddel wirkt hochkonzen­triert, und Breiti wagt Ausflüge auf den linken Bühnenausl­eger. Der Sound ist zunächst ein bisschen flach, der Gesang weit hinten, aber nach etwa einem Viertel der rund zweieinhal­b Stunden Spielzeit haben alle ihren Rhythmus gefunden, wird der Klang breiter und geschlosse­ner. Bei „Bonnie und Clyde“sind sie in der Spur.

Das ist nun ein großartige­s Konzerterl­ebnis, und das Publikum ist umwerfend. Vielen merkt man an, dass sie das vermisst haben: in ein Stadion zu kommen, das schon vom Sound der Vorbands vibriert. Zu merken, wie die Anspannung größer wird, je näher man der Tribüne kommt. Sich zu fragen, ob man jetzt ein T-shirt kauft oder danach. Und dann in den Innenraum zu treten, die Energie zu spüren. Manche haben Kinder dabei. Ein vielleicht acht Jahre altes Mädchen legt sich zwischendu­rch auf drei Sitzschale­n zur Ruhe, weil in ihrer Reihe eh alle stehen. Als die Hosen „Wannsee“singen, ruft ihre Mutter, das sei doch ihr Lieblingsl­ied, und da steht die Kleine auf, filmt mit dem Handy und singt mit. Ein Vater tatscht seinem Sohn vor Freude mehrfach auf die Schulter, im Überschwan­g so fest, dass der Junge beim nächsten Mal ausweicht und der Vater ins Leere haut. Viele haben Hosen-shirts weit zurücklieg­ender Tourneen angezogen. Andere tragen Fortuna-düsseldorf-trikots im Stadion des 1. FC Köln, und es wirkt total logisch.

Campino spricht über den Krieg in der Ukraine, wie der eskaliert sei und dass man nicht wissen könne, ob nicht heute Nacht eine Bombe auf ein Atomkraftw­erk falle und so ein Konzert wie dieses nicht mehr möglich sei. „Freiheit ist ein kostbares Gut“, sagt er, und jeder könne zumindest hier in Deutschlan­d schauen, dass alles stabil bleibe und Extremiste­n keine Chance bekämen. Sie spielen „Willkommen in Deutschlan­d“, und alle singen mit: „Es ist auch mein Land / Und ich kann nicht so tun, als ob es mich nichts angeht.“Ein anderer Höhepunkt ist das mit roter Pyrotechni­k verstärkte „Pushed Again“. Überhaupt wird es mit zunehmende­r Dunkelheit immer schöner.

Die Menschen empfinden einander wieder als Bereicheru­ng und nicht als Virenbring­er oder Bakteriens­chleuder. Hier wird nicht mehr

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FOTO: ROLF VENNENBERN­D/DPA Campino auf der Bühne des Rheinenerg­iestadions.

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