Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Eine Geige erweckt Hildegard von Bingen
Klassik Momentan sind ja gewagte Patchwork-programme ein echter Hit im Klassikbetrieb. Also irgendwie scheues Mittelalter kombiniert mit schriller Moderne, dazwischen oder danach, wie zur Versöhnung, etwas Mozart – oder zur spirituellen Vertiefung direkt Johann Sebastian Bach.
Eine solche Platte gibt es, aber sie hat gar nichts von programmatischen Würfelergebnissen. Sondern ein Rad greift ins andere, ein Stück bahnt den Weg ins nächste. Oder ein Kontrast wird so raffiniert erzeugt, dass man sich fühlt wie auf der anderen Seite des Mondes. „L‘aurore“heißt die neue Solo-cd der wunderbaren Geigerin Carolin Widmann bei ECM Records, und wer sie auflegt, der betritt die Welt gleichsam mit ihren Anfängen. Er betritt den musikalischen Tag und erlebt dessen Morgenröte. Widmann spielt nämlich zu Beginn die Antiphon „Spiritus sanctus vivificans vita“von Hildegard von Bingen, man spürt die historische Entfernung, aber auch die melodische Kraft, die aus Hildegards Opus entsteht. Und am Ende der CD steht wie der Fluchtpunkt, auf den sich alles konzentriert, Bachs berühmte Partita d-moll (die mit der großartigen Chaconne).
Aber aufregend ist die CD auch in ihrer Mitte. Hier erlebt man nämlich zwei Komponisten, die der Geige alles mitgegeben haben, was an Farben, Valeurs oder Strichkünsten nur möglich ist. Von George Enescu ist die atemberaubende „Fantaisie concertante“zu erleben, von Eugène Ysaÿe die 5. Sonate G-dur (deren erster Satz „L‘aurore“heißt). Und im Zentrum stehen drei Miniaturen von dem 1960 geborenen George Benjamin, die auch so heißen: „Three Miniatures“. Es handelt sich um tönende Personenporträts von herrlicher Unmittelbarkeit.
Carolin Widmann spielt alles mit einem virtuosen Enthusiasmus, einer Kraft der Überredung und Überzeugung, die sich auf den Hörer überträgt. Natürlich ist dies eine Platte nur mit einer Geige und nichts als einer Geige. Aber wenn Widmann spielt, ist ihre Geige die ganze Welt.