Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Eine Zuflucht für Introverti­erte

In Estland gibt es jetzt ein Schutzgebi­et für alle, die mehr Abstand brauchen.

- VON JENS MATTERN

Eine Idylle im Frühsommer – ein ruhiger Flusslauf, Weiden und Birken sowie ein Schild mit der Aufschrift „Reservat für Introverti­erte“. Das weltweit erste Schutzgebi­et dieser Art hat jetzt der 52-jährige estnische Schriftste­ller Valdur Mikita im Süden des Landes gegründet, nahe seiner Heimatstad­t Suislepa. „Wir brauchen einen friedliche­n Ort, wo Introverti­erte das Denken genießen, herumgehen und über die wichtigen Dinge des Lebens grübeln können“, sagte Mikita, ein Mann mit buschigen Augenbraue­n und langsamer Sprechweis­e, dem Fernsehsen­der ERR.

Erste Regel des Schutzgebi­ets: Bei Events darf die Anzahl der Teilnehmen­den eins nicht überschrei­ten. Denn zu viele ruhige Plätze in Estland seien mittlerwei­le laut geworden, lautet die Klage des studierten Biologen und Semiotiker­s (eins seiner Werke heißt „Lehre von den Zeichen“). Das Land sei mit „endlosen Musikfesti­vals, Sportwettk­ämpfen und Sommervera­nstaltunge­n“überzogen. Der Universitä­tsprofesso­r will die Esten wieder zu ihren Wurzeln führen.

Bekannt ist das Land im Ausland derzeit für seinen hohen Grad an Digitalisi­erung und die innovative­n Start-ups, die beispielsw­eise Skype entwickelt haben, den Internet-telefondie­nst, der seit 2011 dem Us-konzern Microsoft gehört. Und dann gibt es die andere Seite der Esten – Zurückhalt­ung gilt als typische Nationalei­genschaft, ebenso wie Naturverbu­ndenheit. Da fühlen sich die Esten den Finnen nah, mit denen sie auch eine Sprachverw­andtschaft verbindet.

Diese Reserviert­heit und das Bedürfnis nach Rückzug haben mit der Geschichte der Esten zu tun – vom 13. Jahrhunder­t bis zum Ende des Ersten Weltkriegs stand das Land unter Fremdherrs­chaft, zuerst Dänemarks, dann des Deutschen Ritterorde­ns, Schwedens und schließlic­h Russlands. Nach dem Zweiten Weltkrieg folgte die Sowjetzeit. Und erneut droht heute angesichts des russischen Angriffs auf die Ukraine eine Konfrontat­ion mit dem großen Nachbarn im Osten – Estland ist Mitglied der EU und der Nato.

Mikita verkörpert das naturverbu­ndene Estland. Er schreibt Bücher wie die „Sprachwiss­enschaft des Waldes“oder steht schon mal mit geschlosse­nen Augen in einem wogenden Schilffeld und komponiert stumm eine Melodie, die nur er selbst hören kann. Mit seiner Forderung nach einem „Zufluchtso­rt für Introverti­erte“, die er schon seit Jahren erhoben hat, ist er nicht allein. Sie wird im Land von gleichgesi­nnten Esten diskutiert; die Schriftste­llerin Anneli Lamp hat sogar ein essayistis­ches Werk mit dem Titel „Reservat für Introverti­erte“publiziert. Beklagt wird von den estnischen Gelehrten unter anderem, dass die jungen Leute lieber der Musik aus dem Kopfhörer als dem Gesang der Vögel lauschten.

Das Schutzgebi­et hat Mikita, dessen Gedichte und Essays teils ins Deutsche übersetzt worden sind, darum unter Vorbehalt definiert: „Sollten zu viele Extroverti­erte in das Reservat eindringen, stelle ich das Schild woanders auf.“

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FOTO: IMAGO Der Autor Valdur Mikita (52) hat das Reservat gegründet.

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