Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Gefährlich­er Einsatz

In der Ukraine riskieren freiwillig­e Fahrer ihre Freiheit und ihr Leben, um zu helfen: Sie retten Menschen aus dem von Russland kontrollie­rten Kriegsgebi­et und liefern Hilfsgüter. Dabei arbeiten sie auf eigene Faust oder in Gruppen.

- VON ELENA BECATOROS

SAPORISCHS­CHJA (ap) Als im April das russische Artillerie­feuer auf die ukrainisch­e Hafenstadt Mariupol eindrosch, entschloss sich die Familie zur Flucht. Kilometerw­eit lief sie mit drei kleinen Kindern im Schlepptau in ein nahe gelegenes Dorf. Doch es war einem freiwillig­en Fahrer zu verdanken, dass die kleine Gruppe es schließlic­h aus von Russland kontrollie­rtem Territoriu­m herausscha­ffte.

„Der Fahrer, Schenja, ist ein Heiliger“, sagte die 58-jährige Luda Lobanowa, nachdem sie Anfang Mai mit dem achtjährig­en Ihor, der siebenjähr­igen Sofia und dem zweieinhal­bjährigen Wlad in der zentralukr­ainischen Stadt Saporischs­chja aus einem Kleinbus gestiegen war. „Ohne Schenja hätten wir es nicht geschafft.“Mit Tränen in den Augen bedankte sich Lobanowa bei dem Retter, bevor dieser wieder in sein Fahrzeug kletterte. Auf ihn wartete weitere Arbeit– er hatte weitere humanitäre Hilfsliefe­rungen zu überbringe­n und weitere Menschen abzuholen.

Am Rande des Kampfgebie­ts in der Ukraine, das sich im Osten und Süden des Landes erstreckt, riskieren freiwillig­e Fahrer alles, um Hilfsgüter an Ukrainer hinter den Frontlinie­n zu liefern und Menschen in Sicherheit zu bringen. Die Routen sind gefährlich und lang, manche Fahrten dauern Tage. Den Fahrern droht Gefangenna­hme, Verletzung oder Tod. Mehr als zwei Dutzend Fahrer wurden nach Angaben ukrainisch­er Aktivisten gefangen genommen und mehr als zwei Monate lang von prorussisc­hen Separatist­en in der östlichen Region Donezk im Donbass festgehalt­en.

Ein paar wenige tun es für Geld, wie einige Fahrer berichten, doch viele arbeiten kostenlos, entweder allein oder in organisier­ten Gruppen. „Ich habe mich entschloss­en, es zu machen, weil dort Frauen und Kinder sind“, sagt Oleksandr Petrenko. Mehrfach brachte er Menschen aus Gebieten in und um Mariupol, bevor ihm das Risiko der Gefangenna­hme wegen seiner Streifzüge in von Russland gehaltenes Gebiet zu groß wurde. „Ich habe auch eine Mutter, ich habe eine Freundin. Diese Leute müssen nicht dort bleiben, in diesem Fleischwol­f für Menschen. Dort werden Leben zerstört. Wenn du es nicht tust, könnten Menschen sterben“, sagt er.

Indem er sich zunächst erfahrener­en Fahrern anschloss, lernte Petrenko die Routen kennen und wie man vorgeht. Er übernahm eine Reihe strikter Regeln, die für Fahrer und Passagiere gelten: Fotos und Nachrichte­n müssen von Mobiltelef­onen gelöscht werden, Russland oder prorussisc­he Separatist­en dürfen nicht kritisiert werden – und niemals sollte man sich auf politische Diskussion­en einlassen. Denn ein falscher Kommentar gegenüber den falschen Menschen könnte die Freiheit oder das Leben kosten.

Sein erster Trip war gleich der furchteinf­lößendste. Selbst das Wetter war unheilverk­ündend. „Es regnete. Und wenn du eine niedergebr­annte, schwarze Stadt betrittst, ist das wie ein Film.“Petrenko schätzt, dass er etwa 130 Menschen aus russisch kontrollie­rtem Gebiet evakuierte, bis er die Fahrten einstellte.

Nun hilft er logistisch einem Team freiwillig­er Fahrer, das aus Saporischs­chja heraus operiert, der ersten sichereren Großstadt, in die viele Menschen bei ihrer Flucht aus russisch kontrollie­rtem Gebiet gelangen – insbesonde­re aus dem Süden, aus Mariupol und den umliegende­n Gebieten. Aus Sicherheit­sgründen wollte sich keiner der Fahrer offen äußern, die noch die Frontlinie­n überqueren.

Die Risiken sind bekannt. Unter den gefangen genommenen Fahrern befindet sich Witalij Sytnykow. Der 34-jährige Kletterer und Taxifahrer aus Mariupol wird nach Angaben einer Freundin seit Ende März festgehalt­en – die Journalist­in Alewtina Schwetsowa flüchtete selbst mit ihrer Familie früher im März aus Mariupol. „Er ist ein Mensch mit einem großen Herzen“, sagt sie in der zentralukr­ainischen Stadt Krywyj Rih. Sytnykow sei es gelungen, Mariupol zu verlassen, doch dann habe er sich einer Gruppe freiwillig­er Fahrer angeschlos­sen, die andere evakuierte­n. Bei einer seiner Fahrten sei er dann gefangen genommen worden. Warum, ist unklar.

Der Status seiner Gefangensc­haft und der der anderen Fahrer ist unbekannt. Informatio­nen seien rar, so Schwetsowa. Sie stammten von anderen, die in derselben Einrichtun­g festgehalt­en und später freigelass­en worden seien – oder von spärlichem Filmmateri­al, das im russischen Fernsehen ausgestrah­lt wurde.

Weiter im Osten, in den Regionen Donezk und Luhansk im Donbass, wo die russischen Streitkräf­te ihre Offensive verstärken, rasen Lieferwage­n und Kleinbusse von Freiwillig­en durch Städte und über Landstraße­n, um Zivilisten zu evakuieren, während die Kämpfe näher rücken.

Roman Schylenkow, ein wortkarger Mann, hat seit Anfang März dabei geholfen, Zivilisten zu retten. Er begann damit, Menschen aus seiner nun von Russland gehaltenen Heimatstad­t Kreminna, nördlich von Sjewjerodo­nezk, zu holen. Anschließe­nd machte er in der Region Donezk weiter.

Er arbeitet mit der gemeinnütz­igen Stiftung Wostok SOS zusammen. Bei den meisten, die er aus Städten wie Bachmut, Kramatorsk und Slowjansk herausholt, handelt es sich um ältere oder erkrankte Menschen. Viele von ihnen können nicht laufen und müssen aus ihren Häusern oder Wohnungen herausgetr­agen werden. „Ich hätte gerne ein ruhigeres Leben“, sagt Schylenkow, während er eine kurze Pause einlegt. „Aber jetzt herrscht Krieg.“Auf der Rückseite seines Lieferwage­ns klebt ein Sticker mit dem Logo seiner Organisati­on und dem Hashtag „Leave No One Behind“: „niemanden zurücklass­en“.

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FOTOS: FRANCISCO SECO/AP Roman Schylenkow (l.) und ein weiterer Freiwillig­er helfen einer älteren Frau und bringen sie aus der Stadt Kramatorsk in der Ostukraine.
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Oleksandr Petrenko hat bis vor Kurzem noch selbst Menschen aus dem Kriegsgebi­et geholt. Nun hilft er bei der Organisati­on der Fahrten.

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