Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Viele Corona-infizierte nach Rock am Ring
90.000 Besucher haben beim Festival gefeiert, viele haben sich offenbar mit dem Virus angesteckt. Was bedeutet das für die Sommerveranstaltungen? Ist es ein Fehler, die Massen wieder zusammenkommen zu lassen?
Sascha H. ist am Pfingstmontag gerade dabei, sein Zelt auf dem Festivalgelände abzubauen, als er die erste Warnmeldung erhält: Begegnung mit erhöhtem Risiko bei Rock am Ring. Am Ende verzeichnet die CoronaApp des 46-Jährigen drei sensible Kontakte mit Corona-infizierten – und der Düsseldorfer erkrankt selbst. Erst spürt er ein Kratzen im Hals, dann kommen Fieber und Schüttelfrost dazu.
Sascha H. ist offenbar nicht der Einzige, der mit dem Coronavirus von Deutschlands größtem Rockfestival in der Eifel zurückgekehrt ist. Bei einer nicht-repräsentativen Umfrage in einer Facebook-gruppe gaben 24 Prozent der Befragten an, nach dem Festival positiv getestet worden zu sein. Zehn Prozent erklärten, Symptome zu haben, jedoch einen negativen Test. Neun Prozent berichteten von Bekannten, die positiv getestet worden seien. Mehr als 1300 Menschen haben an der Umfrage teilgenommen, mehr als 300 gaben an, sich infiziert zu haben. Das Resümee einiger Ringrocker: „Egal, das war’s wert.“
90.000 Besucher haben an Pfingsten bei Rock am Ring gefeiert. Es war das erste großen Festival nach zweijähriger Corona-zwangspause; die Euphorie bei Besuchern und Bands war riesig. Viele weitere Festivals folgen, am kommenden Wochenende etwa das Hurricane-festival in Norddeutschland und das Southside im Süden. Anfang Juli werden 25.000 Besucher zum Summerjam in Köln erwartet. Unterdessen steigt die Sieben-tage-inzidenz der Corona-infizierten in Nordrhein-westfalen deutlich, am Montag auf 403,6. Die höchsten Inzidenzen gibt es in der Altersgruppe von 20 bis 59 Jahren, wie aus den Zahlen des Landeszentrums Gesundheit NRW hervorgeht. Also in den Altersgruppen mit der höchsten Mobilität und den meisten Kontakten. Was bedeutet das für die Festivals? Ist es ein Fehler, die Massen wieder zusammenkommen zu lassen?
„Es gibt bei einem Festival genügend klassische Ansteckungssituationen“, sagt Thomas Voshaar, Chefarzt des Lungenzentrums im Bethanien-krankenhaus in Moers. Er sagt aber auch: „Die Ansteckungswahrscheinlichkeit im Freien ist geringer als 0,1 Prozent.“Zwar bestehe auch draußen eine leicht erhöhte Ansteckungsgefahr, wenn Menschen eng beieinander stünden, sich gegenseitig anatmeten und es wenig Windbewegung gebe. „Aber die größten Infektionsrisiken sind in Innenräumen – in Bus und Bahn, im Auto, in den Zelten und Toilettenräumen“, sagt Voshaar. Der Aerosolforscher Gerhard Scheuch ergänzt: „Draußen gibt es keine Cluster-infektionen, man steckt den Nachbarn vielleicht an, aber nicht eine ganze Gruppe.“Wenn es so wäre, dass Massenveranstaltungen im Freien ein Superspreader-event auslösen würden, dann wäre es insbesondere bei Bundesliga-spielen schon viel öfter zu Ausbrüchen gekommen, sagt Scheuch: „Die Ansteckungen passieren auch beim Fußball bei der An- und Abreise.“Zwar zeigten die Zahlen, dass die Pandemie noch nicht vorbei sei. „Aber wir müssen damit leben“, sagt Scheuch: „Und wir müssen Festivals feiern und in Stadien gehen dürfen.“
Dem Rock-am-ring-veranstalter liegen keine Informationen über ein erhöhtes Infektionsgeschehen vor, wie ein Sprecher unserer Redaktion sagte. Auf dem Festival-gelände gab es keine Corona-maßnahmen, Abstandsregeln hätten ohnehin nicht eingehalten werden können. In einem Interview vor dem Start hatte auch Veranstalter Matt Schwarz erklärt: „Wir müssen lernen, mit der Pandemie zu leben.“Den Besuchern stehe natürlich frei, ob sie eine Maske wollen oder nicht.
„Wir waren zu dritt bei Rock am Ring und sind alle coronapositiv“, sagt Christoph K., 49 Jahre, aus Dortmund: „Die Shuttle-busse zwischen Festivalgelände und Campingplätzen waren immer gerammelt voll, und wir haben niemanden mit Maske gesehen – haben aber auch selbst keine getragen.“
Gerhard Scheuch sagt: „Ich empfehle den Leuten: Nehmt euch einen Co2-messer mit. Es gibt billige Geräte, die man einfach in die Tasche stecken kann.“Steigt im Bus oder in einem geschlossenen Raum der Co2-wert stark, könne man die Fenster aufreißen oder an die frische Luft gehen, sagt er. Corona-experte Voshaar setzt auf Eigenverantwortung: „Die Menschen haben längst verstanden, wo Gefahr droht und wo nicht“, sagt der 64-Jährige: „Jeder soll für sich entscheiden, ob er die Infektion ganz vermeiden oder ein Risiko eingehen will.“Die Krankheitsverläufe mit der Omikron-variante seien meist milde. „Eine jetzt durchgemachte Infektion hinterlässt eine viel bessere und stabilere Immunität als eine Auffrischimpfung“, sagt Voshaar. Der Gedanke an ein Festival mit Tausenden Menschen alarmiere ihn keineswegs. Im Gegenteil: „Je mehr Infektionen wir jetzt haben, desto besser.“Dadurch verbessere sich die Immunität der Bevölkerung in der Breite: „Und so können wir viel sicherer in den Herbst gehen.“