Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Eine Mahnung in der Öffentlichkeit
Das Relief hängt in vier Meter Höhe außen an der Stadtkirche in Wittenberg. Stereotype Figuren, die Juden darstellen sollen, sind in schmähender Weise um eine Sau gruppiert, ein Tier also, das im Judentum als unrein gilt. Es ist keine Frage, dass die Darstellung von 1290 „in Stein gemeißelter Antisemitismus ist“, wie der Bundesgerichtshof befand. Natürlich geht es dabei um historischen Antisemitismus, doch ist der keineswegs harmlos, denn es lassen sich Linien bis zum Holocaust ziehen und leider auch bis in die Gegenwart. Es ist also verständlich, dass ein vor Jahrzehnten zum Judentum konvertierter Mann seine Religion und sich selbst durch die Schmähplastik diffamiert sieht und sie am liebsten ins Museum hätte verfrachten lassen.
Der Bundesgerichtshof hat anders entschieden. Er hält die Distanzierung, die von der Kirchengemeinde vorgenommen wurde, für ausreichend. Auch an anderen Kirchen wurde bereits so verfahren, am Regensburger Dom zum Beispiel. Jüdische Vertreter unterstützen diesen Kurs. Das Urteil ist tatsächlich keine Schwächung der jüdischen Position, sondern eine Mahnung, Verantwortung für historische Schuld und für die Auseinandersetzung darum im öffentlichen Raum zu übernehmen. Das ist richtig. Belege historischer Schuld aus der Öffentlichkeit zu tilgen, würde nur dazu führen, dass von dieser Vergangenheit weniger die Rede ist. Reliefs wie jenes in Wittenberg dürfen nicht unkommentiert in der Öffentlichkeit hängen.
Flankiert durch kritische Information jedoch werden sie zu wichtigen Stolpersteinen, die etwa die Frage aufwerfen, welchen Anteil die Kirchen am Judenhass hatten. Darüber hinaus offenbaren sie, wie offen und selbstkritisch betroffene Institutionen heute mit ihrer historischen Schuld umgehen. 48 Darstellungen wie die in Wittenberg hängen an Kirchen in Europa. Genug Gelegenheit, in der Gegenwart Haltung zu zeigen.