Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Adiós, Macho-land!
ANALYSE Spaniens gesellschaftlicher Wandel erstaunt Europa. Einst erzkonservativ, ist der Staat nun Vorreiter in Sachen Frauen- und Gleichstellungspolitik. Regierungschef Pedro Sánchez treibt die Entwicklung an. In seinem 23-köpfigen Kabinett sitzen 14 Mi
Europa staunt, wie Spanien, das lange als erzkonservatives Macho-land galt, sich zu einem Staat wandelt, in dem die Gleichberechtigung weit vorangeschritten ist. Mit seiner Frauen- und Gleichstellungspolitik gilt das Königreich inzwischen als europäischer Vorreiter. Es ist ein Wandel, der durch Spaniens progressiven Ministerpräsidenten Pedro Sánchez angetrieben wird. Feministische Politik gehört zu seinen Prioritäten. „Wir leben in der Zeit der Frauen“, sagt er.
Das war in Spanien nicht immer so. Sánchez regiert in einem Land, in dem die Frauen in der 1975 untergegangenen Franco-rechtsdiktatur unter der Vormundschaft der Ehemänner standen – mit dem Segen der Kirche. Heute sieht es anders aus: Spanien ist ein weltlicher Staat. Die Bischöfe verloren ihren Einfluss; nur ein Drittel der Bevölkerung zahlt noch Kirchensteuer.
In den vergangenen Wochen brachte Sánchez‘ Koalitionsregierung gleich mehrere Reformen auf den Weg, die in ganz Europa Aufsehen erregten: Zum Beispiel das „Nur Ja heißt Ja“-gesetz, das die Verfolgung sexueller Übergriffe erleichtert, weil jede körperliche Annäherung ohne Zustimmung beider Partner als Gewalt geahndet werden kann. Oder den Menstruationserlass, der Frauen mit starken Regelschmerzen das ausdrückliche Recht einräumt, sich krankzumelden.
Schon mit seinem Kabinett setzte Sánchez, dessen Sozialistische Partei zur sozialdemokratischen Familie gehört, klare Zeichen: 14 Frauen, neun Männer – Frauen führen die meisten wichtigen Ministerien. Zu den einflussreichen Weichenstellerinnen zählt Frauenministerin Irene Montero. Die 34-jährige studierte Psychologin ist eine der Galionsfiguren der Linkspartei Podemos, die als Juniorpartner mit den Sozialisten die Mitte-links-regierung bildet.
Vor allem aus Monteros Ministerium stammen jene Gesetze, die Spaniens Ruf prägen. Das Transgender-gesetz gehört ebenfalls dazu.
Es ermöglicht allen ab 16, die Geschlechtszugehörigkeit unbürokratisch zu ändern. Ohne ärztliches Attest, psychiatrische Gutachten und sonstige Hürden. Eine schlichte Erklärung auf dem Standesamt reicht.
Genaugenommen wurde der erste Meilenstein für Spaniens feministischen Aufbruch schon vor fast zwei Jahrzehnten gesetzt. Und zwar mit einem „Gesetz gegen geschlechtsspezifische Gewalt“, das Rechte und Schutz von misshandelten Frauen sowie Strafen für Täter drastisch erhöhte. Auch damals reagierte ein Sozialist. Er hieß José Luis Zapatero. Er schaffte es 2004, alle Parteien für sein Gesetz gegen Männergewalt ins Boot zu holen. Damals erschütterten besonders viele Gewalttaten gegen Frauen das Land. Doch die Reform bewirkte, dass die Zahl der durch Partner oder Ex-partner getöteten Frauen zurückging. Inzwischen werden in Spanien, im Verhältnis zur Bevölkerungszahl, weniger Femizide registriert als in Deutschland. Dem spanischen Anti-gewalt-gesetz folgte 2005 die Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe mitsamt Adoptionsrecht – sehr viel früher als etwa in Deutschland. 2010 setzten die Sozialisten eine äußerst großzügige Liberalisierung der Abtreibung bis zur 14. Schwangerschaftswoche durch.
Und dann kam, mit der konservativen Regierung von Mariano Rajoy, der Stillstand. Rajoy wollte die Reformen zur Abtreibung und Ehe für alle rückgängig machen. Er konnte dies aber nicht durchsetzen, weil Frauen und Homosexuelle aus den eigenen Reihen protestierten. 2018 stolperte Rajoy über einen Korruptionsskandal; Sánchez übernahm. Der Wirtschaftswissenschaftler nutzt die Chance, das Rad der Reformen weiterzudrehen. Etwa mit der Legalisierung der aktiven Sterbehilfe, die ansonsten in Europa nur noch in den Niederlanden, in Luxemburg und Belgien erlaubt ist.
Doch auch die Ära des Reformers Sánchez könnte bald zu Ende gehen. Die opferreiche Pandemie mitsamt Wirtschaftseinbruch, die horrenden Energiepreise, die großen Einkommensverluste durch Rekordinflation, der im Land umstrittene Versöhnungskurs mit Kataloniens Unabhängigkeitsbewegung – all das scheint Sánchez‘ Rückhalt geschwächt zu haben.
In Umfragen liegt die konservative Volkspartei mit ihrem neuen Chef Alberto Feijóo schon fast gleichauf. Zusammen mit der ebenfalls wachsenden rechtspopulistischen Partei Vox, die mit den Konservativen bereits in einigen Regionen regiert, könnte es in der Parlamentswahl Ende kommenden Jahres eine neue Mehrheit geben. Konservative und Rechtspopulisten ließen bereits durchblicken, was sie nach einer Machteroberung als Erstes machen wollen: Spaniens Gleichstellungsministerium abschaffen.
Der erste Meilenstein für den feministischen Aufbruch wurde vor fast zwei Jahrzehnten gesetzt