Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Es ist nicht leicht, Paul Mccartney zu sein

Er schrieb einige der schönsten Lieder aller Zeiten. Dennoch rümpfen viele über ihn die Nase. Ein Gruß zum 80. Geburtstag.

- VON PHILIPP HOLSTEIN

Es ist nicht hundertpro­zentig klar, ob sie wahr ist, aber wenn nicht, dann ist die Legende mit dem Türsteher, der Paul Mccartney nicht erkannte, zumindest gut erfunden. Bei den Grammys vor sechs Jahren war das. Mccartney wollte mit ein paar anderen Jungs zur Aftershow-party des Rappers Tyga. Der Security-mann ließ ihn allerdings nicht hinter die Absperrung, Mccartney habe schließlic­h keine Karte, könnte ja jeder kommen. Mccartney drehte sich zu Woody Harrelson und Beck um, die er im Schlepptau hatte, und sagte: „Wir sind nicht VIP genug. Wir brauchen einen weiteren Hit, Männer.“Dann zogen sie gut gelaunt ab und besuchten eine andere Party.

Es ist nicht so leicht, Paul Mccartney zu sein. Er ist der bedeutends­te Popmusiker der Welt, aber kein Popstar. Genau genommen ist völlig egal, was er seit dem Jahr 1970 gemacht hat. Niemand kauft eine Karte für seine Konzerte und denkt: Hoffentlic­h spielt er ein paar neue Kracher. Alle wollen bloß jene Lieder hören, die er vor seinem 29. Geburtstag geschriebe­n hat. Die singt er nun seit vielen Jahrzehnte­n, er steht da und ist die Gegenwart der Geschichte. Manchmal widmet er die Lieder den toten Gefährten, und bisweilen ist ihm gallig zumute, dann spielt er „Being for the Benefit of Mr. Kite!“und sagt, dass es von John sei, merkt aber gleichzeit­ig an, dass er ihm ein bisschen dabei geholfen habe. Junge, denkt man da, gönn ihm doch wenigstens dieses Lied.

Wie die Menschen zu den Beatles stehen, hängt oft damit zusammen, was sie über Paul Mccartney denken. Sein Image ist seit dem Film „A Hard Day’s Night“dieses: Er ist der zugewandte, beflissene, einnehmend­e Moderator. John hingegen war der geistreich­e Widerspens­t, George der nachdenkli­che Spirituell­e und Ringo der Hausheilig­e aller Tollpatsch­e. Mccartney reize Menschen zum Widerspruc­h, schreibt der Beatles-biograf Craig Brown, seine Musterschü­lerhaftigk­eit vor allem und die Leichtigke­it, mit der er ewig gültige Melodien aus der Atmosphäre pflückt. Wie er „Get Back“beim Warten auf John in wenigen Minuten aus dem Nichts modelliert­e, kann man in der Doku „The Beatles: Get Back“bestaunen. „Yesterday“fiel ihm im Schlaf ein. „Here, There and Everywhere“beim Entspannen am Swimmingpo­ol. Mehr muss man gar nicht sagen.

Anderersei­ts: „Here, There and Everywhere“! Was für ein Lied! Vielleicht wird nicht jeder gleich zustimmen, wenn man es als den schönsten Song der Welt bezeichnet. Aber es enthält doch die gesamte Bandbreite menschlich­en Daseins. Es geht auch 56 Jahre nach seiner Entstehung tief, es rührt an und bewegt: „I want her everywhere / And if she‘s beside me I know I need never care / But to love her is to need her.“Was würde man tun, ohne solche Lieder?

Mccartney wurde oft vorgeworfe­n, er sei zu süßlich, zu positiv. Es gibt Auflistung­en zu Lennon/mcCartney-songs, in denen genau dokumentie­rt werden soll, wo John Lennon Dornen in die Lieder streute, damit sie nicht zu niedlich werden. Wenn Paul „It’s getting better“singt, fügt John ein „Can’t get much worse“an. Als Paul „We can work it out“textet, ergänzt John: „Life is very short“. John genügte ein Song nicht, wenn er keine große Idee weitertrug. Paul fand, Pop war bereits die große Idee. Selbst die Beatles haben sich über ihn lustig gemacht. Oder wie ist es zu verstehen, dass sie am Ende von „All You Need Is Love“die Stücke „Yesterday“und

„She Loves You“durch den Kakao ziehen? Es gab eine Zeit nach Johns Tod, Mitte der 80er-jahre ungefähr, da war das Interesse an den Beatles so gering, dass Mccartney tatsächlic­h Selbstzwei­fel plagten. Dem Magazin „Time Out“sagte er damals: „Ich weiß, ich habe meine Bissigkeit verloren.“Damals veröffentl­ichte er

Singles wie „Spies Like Us“, die viele seufzen ließen: O je, was ist das denn?

Als alle freie Liebe predigten, heiratete Mccartney Linda Eastman, zog Kinder auf, und zu Beginn der 1970er zog er aufs Land und wurde Farmer. Er arbeitete immerzu, er war früher im Studio als die anderen, und er brachte zu Ende, was er anfing. Als Brian Wilson das Beach-boys-album „Smile“produziert­e, wurde unter den Dutzenden ins Studio gebetenen Musikern ein Spruch zum geflügelte­n Wort: „Perfekt – noch einmal.“Das Album wurde dann ja auch auf legendäre Weise nie fertig. Mccartney ist so etwas nie passiert. Im Gegenteil: Als die Rolling Stones die Vollendung ihres Meisterwer­ks „Beggar‘s Banquet“mit einer bewusstsei­nserweiter­nden Party feierten und die LP den Versammelt­en zum ersten Mal vorspielte­n, stieß Mccartney verspätet dazu. Er kam direkt aus dem Studio und hatte eine Vorabpress­ung der Beatles-single dabei, die er eben vollendet hatte. Er ließ sie auflegen. Marianne Faithfull erinnerte sich später an diesen Moment: Sieben Minuten lang seien alle still gewesen und hätten andächtig zugehört. Das ist es, hätten sie gedacht. Die Single hieß „Hey Jude“. Sie sollte sich 7,5 Millionen Mal verkaufen.

Bis auf Mccartney hatte jeder Beatle während der 1960er-jahre mal kurz die Band verlassen. McCartney versandte 1970 eine Pressemitt­eilung, in der er seine Trennung von der Gruppe verkündete und zugleich auf sein erstes Soloalbum hinwies. George Harrison kommentier­te den Vorgang lakonisch: „Ich glaube, wir brauchen einen neuen Bassisten.“Aber natürlich war es das Aus der Gruppe. Jeder wollte wissen, wofür Mccartney die größte Band aller Zeiten verließ. Millionen kauften also die LP „Mccartney“in Erwartung eines neuen „Revolver“oder „Sgt. Pepper“, aber was sie zu hören bekamen, war: irgendwie nichts. Skizzen, Obskurität­en. Echt jetzt? Dafür hat er es beendet?

Diese Platte ist die große Bürde für Mccartney Solokarrie­re. Dass die Nachfolge-lp „Ram“genial war, erkannte deshalb kaum einer. So ging es ihm in den folgenden Jahren öfter. Man höre nur die Platte „Run Devil Run“. Er nahm sie kurz nach dem Tod Lindas auf und sang Lieder, die ihn an sie erinnern. Ein Konzeptalb­um über Witwerscha­ft und Verlust, emotional und traurig, aber wenige hörten sie. Oder das Lied „So Bad“. Der Musikjourn­alist Rob Sheffield schrieb über das Stück, dass jeder andere es ein bisschen weiter ausformuli­ert und besser arrangiert hätte und noch auf seinem Sterbebett damit angeben würde. McCartney hingegen schluderte es hin, versteckte es auf einer LP, und nun kennt es niemand. Dabei ist es so schön.

Es ist nicht leicht, Paul Mccartney zu sein. Umso größer die Dankbarkei­t, dass er den Job seit 80 Jahren für uns übernimmt.

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