Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Mit eigenen Augen
Am 113. Kriegstag kommt der Kanzler nach Kiew, begleitet von Macron und Draghi. Was haben sie dem Land an Hilfen mitgebracht?
Man sieht es ihm an: Die Zerstörungen des Krieges, die Schilderungen von Kriegsverbrechen - sie gehen an Bundeskanzler Olaf Scholz nicht spurlos vorbei. Der deutsche Regierungschef steht am Donnerstagvormittag vor den Trümmern in Irpin, gemeinsam mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, Italiens Regierungschef Mario Draghi und Rumäniens Präsident Klaus Iohannis.
Irpin ist zum Symbol des russischen Angriffskrieges in der Ukraine geworden. Ähnlich wie im benachbarten Butscha wurden dort nach dem Rückzug der russischer Truppen Ende März knapp 300 teils hingerichtete Zivilisten gefunden, derzeit laufen internationale Ermittlungen, um die Schuldigen zu ermitteln. Scholz drückt sein Empfinden vor Ort so aus: Die Angriffe in Irpin sagten „sehr viel aus über die Brutalität des russischen Angriffskriegs, der einfach auf Zerstörung und Eroberung aus ist. Und das müssen wir bei alledem, was wir entscheiden mit im Blick haben. Es ist ein furchtbarer Krieg, und Russland treibt ihn mit größter Brutalität ohne Rücksicht auf Menschenleben voran.“
In Irpin ist das Alltagsleben mittlerweile wieder aufgenommen worden. Bus- und Eisenbahnverbindungen wurden wiederbelebt, eine Behelfsbrücke ersetzt gesprengte Flussquerung, die Einwohner kehren zurück. Doch dass der Krieg auch in der Region Kiew mitnichten vorbei ist, erfahren die drei Staats- und Regierungschefs vor Ort am eigenen Leib. Kurz nach Einfahrt des Zuges, der die vier nach Kiew gebracht hat, gibt es Luftalarm, am Nachmittag ertönen erneut die Sirenen.
Dennoch findet die historische Begegnung statt: 113 Tage nach Beginn der Invasion trifft Scholz am Mittag dann persönlich mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zusammen. Dieser empfängt Scholz und die drei anderen Staats-und Regierungschefs im ukrainischen Präsidentenpalast, dem am besten geschützten Ort in der Ukraine. Die Politiker treten kurz vor die Kameras, der ukrainische Präsident wie üblich in einem khakifarbenen T-shirt, die übrigen in Anzug und Krawatte – allein diese Optik macht den Unterschied deutlich: Selenskyjs Land befindet sich im Krieg.
Noch während Scholz unterwegs ist, fordert der ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, weitreichende Zusagen für Waffenlieferungen. „Die Ukrainer erhoffen sich, dass der bevorstehende Besuch von Bundeskanzler Olaf Scholz nicht nur von symbolischer Bedeutung, sondern bahnbrechend sein wird, um die militärische Hilfe Deutschlands auf ein qualitativ neues Niveau zu heben“, sagt Melnyk unserer Redaktion. „Es ist ganz wichtig, dass der deutsche Regierungschef mit eigenen Augen die Verwüstungen der russischen Aggression sieht, mit Kriegsopfern spricht und somit auch die Dringlichkeit erkennt, warum die Ukraine mit voller Kraft viel stärker und umfangreicher mit schweren Waffen unterstützt werden muss“.
Doch Scholz hat etwas anderes im Gepäck: „Meine Kollegen und ich sind heute hier nach Kiew gekommen mit einer klaren Botschaft: Die Ukraine gehört zur europäischen Familie“, sagt er bei der Pressekonferenz nach dem Treffen mit Selenskyj deutlich. Und macht sich dafür stark, der Ukraine und ihrer kleinen Nachbarrepublik Moldau den Status von Eu-beitrittskandidaten zuzusprechen. „Deutschland ist für eine positive Entscheidung zugunsten der Ukraine. Das gilt auch für die Republik Moldau.“
Grünen-co-fraktionschefin Britta Haßelmann sagt dazu unserer Redaktion: „Wir haben immer gesagt, dass die Tür nach Europa für die Ukraine offenstehen muss. Dass sich der Bundeskanzler so klar für den Kandidatenstatus für die Ukraine und Moldau ausspricht ist genau die richtige Entscheidung zur richtigen Zeit.“Die Unterstützung der Beitrittsperspektive sei ein klares Signal an alle Ukrainerinnen und Ukrainer: „Wir stehen in dieser schwierigen und historischen Situation an eurer Seite.“
Der französische Präsident Macron bekräftigt: „Auf jeden Fall unterstützen wir den Beitrittsstatus der Ukraine zur Europäischen Union“. Macron fährt fort, er und seine drei Kollegen täten „alles, damit die Ukraine allein über ihr Schicksal entscheiden kann“.
Die Eu-kommission will an diesem Freitag eine Empfehlung zu dem Thema vorlegen, die Entscheidung muss einstimmig getroffen, voraussichtlich beim EU-GIPfel nächste Woche in Brüssel. Es ist das ersehnte Solidaritätszeichen, das die europäischen Staatenlenker abgeben. Zur Wahrheit gehört aber auch: Bis die Ukraine tatsächlich der EU beitreten kann, werden viele Jahre vergehen.
Scholz sichert Kiew ebenfalls weitere Waffenlieferungen zu, macht aber keine neuen konkreten Zusagen. Der Kanzler betont: „Gerade bilden wir ukrainisches Militär an modernsten Waffen aus, an der Panzerhaubitze 2000 und am Flugabwehrpanzer Gepard.“Zusätzlich habe er zugesagt, das moderne Flugabwehrsystem Iris-t zu liefern, „das eine ganze Großstadt gegen Luftangriffe verteidigen kann“, so Scholz. „Deutschland unterstützt die Ukraine massiv“, bilanziert er.
Und wie fällt die Bilanz der Ukraine aus? Die Beitrittsperspektive ist ein Lichtstreif am Horizont. Doch das Land kämpft weiter um seine Existenz. Kanzler Scholz hat es nun mit eigenen Augen gesehen.