Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Der geistige Missbrauch
Religion kann auch in der Verkündigung großes Unheil anrichten.
Der vor wenigen Tagen veröffentlichten Studie zu Missbrauchsfällen im Bistum Münster zufolge hat es dort im Zeitraum 1945 bis 2020 laut Aktenlage
610 Missbrauchsopfer gegeben. Es wird jedoch von einer Dunkelziffer von bis zu 6000 betroffenen Mädchen und Jungen ausgegangen. Solche Studien sind enorm wichtig, um Menschen für diese Straftaten zu sensibilisieren, aber auch, um den Opfern Mut zu machen, ihr Leid aufzuarbeiten und um zu verdeutlichen, dass ihr Leid uns alle angeht. Und die betroffenen Institutionen werden unter Druck gesetzt, ihre Strukturen zu überdenken und zu reformieren.
Gleichzeitig vermisse ich aber, dass auch über den geistigen Missbrauch von Menschen durch religiöse Autoritäten diskutiert wird. Ich spreche hier als muslimischer Theologe und habe den muslimischen Kontext vor Augen. Wenn junge Musliminnen und Muslime mit einem Bild von einem tyrannischen Gott aufwachsen, der Menschen erpresst, sich ihm zu unterwerfen, wenn Mädchen vermittelt wird, sie seien erschaffen, um den Männern zu dienen und als sexuelle Objekte am besten ganz verschleiert und versteckt werden müssten, da sie ansonsten selbst schuld daran seien, wenn Männer sie sexuell belästigen, wenn Menschen suggeriert wird, sie seien Objekte der Hörigkeit, nicht nur Gott gegenüber, sondern auch gegenüber religiösen Autoritäten, dann werden Menschen zu unmündigen und fremdbestimmten Marionetten der Geschichte.
Sie sind leichte Beute für jede Form der Instrumentalisierung, vor allem der politischen, da sie sich nicht als selbstbestimmt fühlen. Ich beobachte bei einigen jungen Studierenden der islamischen Theologie, die in einem geistigen Gefängnis sozialisiert sind, dass sie erst lernen müssen, religiöse Inhalte zu reflektieren, zu hinterfragen oder zumindest auf Plausibilität zu überprüfen. Wenn dem Menschen seine Mündigkeit im Namen der Religion geraubt wird – ist dies nicht auch eine Form des Missbrauchs, über die dringend gesprochen werden muss?
Unser Autor ist Islamwissenschaftler an der Universität Münster. Er wechselt sich hier mit der Benediktinerin Philippa Rath, der evangelischen Pfarrerin Friederike Lambrich und dem Rabbi Jehoschua Ahrens ab.