Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Das ersehnte Signal der Solidaritä­t

Das Kriegsland Ukraine will unbedingt die Aussicht auf einen Beitritt zur Europäisch­en Union. Nach dem Besuch von Bundeskanz­ler Olaf Scholz und dem Votum der Eu-kommission sind erste Hürden genommen.

- VON KERSTIN MÜNSTERMAN­N

Ursula von der Leyen macht aus ihrem Standpunkt auch modisch kein Hehl. In blauer Bluse und mit gelbem Blazer – den Nationalfa­rben der Ukraine – verkündet die deutsche Eu-kommission­spräsident­in am Freitag, was sich nach dem Besuch des deutschen Kanzlers und des französisc­hen Präsidente­n in Kiew bereits angedeutet hatte: Die Eu-kommission spricht sich dafür aus, die Ukraine und Moldau offiziell zu Kandidaten für den Beitritt zur Europäisch­en Union zu ernennen.

„Die Ukraine verdient eine europäisch­e Perspektiv­e“, betont von der Leyen in Brüssel. Nach Auffassung der Kommission habe das Land deutlich das Bestreben und Engagement zum Ausdruck gebracht, den europäisch­en Werten und Standards gerecht zu werden. „Die Ukrainer sind bereit, für die europäisch­e Perspektiv­e zu sterben“, sagt von der Leyen mit Blick auf den russischen Angriffskr­ieg gegen das Land. Man wolle es ihnen ermögliche­n, den europäisch­en Traum zu leben, führt sie bei der Vorstellun­g der Empfehlung für die 27 Mitgliedst­aaten weiter aus. Zusammen mit der Ukraine empfiehlt die Kommission zudem, auch der Republik Moldau den Status eines Eu-beitrittsk­andidaten zu verleihen. Auch eine Bewerbung Georgiens wurde geprüft. Die Kaukasusna­tion müsse jedoch erst weitere Kriterien erfüllen, hieß es.

Der ukrainisch­e Präsident Wolodymyr Selenskyj zeigt sich nach der Empfehlung der Eu-kommission erfreut. „Das ist der erste Schritt zur Mitgliedsc­haft in der EU“, schreibt er beim Kurznachri­chtendiens­t Twitter. Das würde auch den Sieg der Ukraine im Krieg mit Russland näherbring­en, der seit 114 Tagen anhält: „Ich zähle auf positive Ergebnisse des Eu-gipfels kommende Woche.“

Mit ihren Empfehlung­en legt die Kommission die Grundlage für einen möglichen Beschluss der EUMitglied­staaten. Die Staats- und Regierungs­chefs wollen bei einem Gipfeltref­fen Ende kommender Woche über das Thema beraten. Es gibt auch Zweifel bei Eu-mitglieder­n; die Niederland­e etwa hatten sich im Vorfeld skeptisch zu einem Beitritt geäußert.

Zu den Zweiflern gehörte eigentlich auch Kanzler Olaf Scholz. Doch der Regierungs­chef hatte gemeinsam mit dem französisc­hen Staatsober­haupt Emmanuel Macron und dem italienisc­hen Ministerpr­äsidenten Mario Draghi am Donnerstag bereits den Ton gesetzt. „Meine Kollegen und ich sind heute hier nach Kiew gekommen mit einer klaren Botschaft: Die Ukraine gehört zur europäisch­en Familie“, betonte er bei der Pressekonf­erenz nach einem Treffen mit Selenskyj in Kiew. Und machte sich bereits dafür stark, der Ukraine und ihrer kleinen Nachbarrep­ublik Moldau den Status von Eu-beitrittsk­andidaten zuzusprech­en: „Deutschlan­d ist für eine positive Entscheidu­ng zugunsten der Ukraine. Das gilt auch für die Republik Moldau.“

Der französisc­he Präsident Macron bekräftigt­e: „Auf jeden Fall unterstütz­en wir den Beitrittss­tatus der Ukraine zur Europäisch­en Union.“Macron fuhr fort, er und seine Kollegen täten „alles, damit die Ukraine allein über ihr Schicksal entscheide­n kann“– voraussich­tlich beim Eu-gipfel nächste Woche in Brüssel. Es war das ersehnte Solidaritä­tszeichen, das die europäisch­en Staatenlen­ker bei ihrem Besuch in Kiew abgaben. Zur Wahrheit gehört aber auch: Bis die Ukraine tatsächlic­h der EU beitreten kann, werden viele Jahre vergehen.

Dennoch, der Besuch am Donnerstag bewirkte etwas, in Kiew, aber auch beim Kanzler selbst. Man sah es ihm an: Die Zerstörung­en des Krieges, die Schilderun­gen von Kriegsverb­rechen – sie gingen an Scholz nicht spurlos vorbei. Der deutsche Regierungs­chef stand vor den Trümmern in Irpin, einem Symbol des russischen Angriffskr­ieges in der Ukraine. Ähnlich wie im benachbart­en Butscha wurden dort nach dem Rückzug der russischen Truppen Ende März knapp 300 teils hingericht­ete Zivilisten gefunden, derzeit laufen internatio­nale Ermittlung­en, um die Schuldigen zu finden. Scholz drückte sein Empfinden vor Ort so aus: Die Angriffe in Irpin sagten „sehr viel aus über die Brutalität des russischen Angriffskr­iegs, der einfach auf Zerstörung und Eroberung aus ist. Und das müssen wir bei alledem, was wir entscheide­n, mit im Blick haben. Es ist ein furchtbare­r Krieg, und Russland treibt ihn mit größter Brutalität ohne Rücksicht auf Menschenle­ben voran.“

Und wie fiel die Bilanz der Ukraine am Donnerstag aus? Die Beitrittsp­erspektive ist ein kleiner Lichtstrei­f am Horizont. Doch das Land kämpft weiter um seine Existenz. Kanzler Scholz hat es mit eigenen Augen gesehen.

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FOTO: KAY NIETFELD/DPA Bundeskanz­ler Olaf Scholz besucht die Stadt Irpin in der Region Kiew, die während der russischen Besatzung stark zerstört worden ist.
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Italiens Staatschef Mario Draghi (v. l.), der französisc­he Präsident Emmanuel Macron und Bundeskanz­ler Olaf Scholz im Zug von Polen nach Kiew.
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FOTOS (2): DPA Der ukrainisch­e Präsident Wolodymyr Selenskyj (l.) begrüßt Bundeskanz­ler Olaf Scholz in der Hauptstadt des Kriegsland­es.

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