Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Orientierungshilfe für die Außenpolitik
Der frühere Hamburger Bürgermeister Klaus von Dohnanyi widmet sich in seinem neuen Buch einer vielschichtigen Beurteilung deutscher Standpunkte. Nationale Interessen, hält der Spd-politiker fest, seien kein Nationalismus.
Bücher in Zeiten des Übergangs haben es nicht leicht. Wenn alte Gewissheiten schwinden und neue sich erst etablieren müssen, veralten Aussagen schnell. Klaus von Dohnanyi hat ein solches Buch geschrieben, und es ist durchaus lesenswert. Der Titel: „Nationale Interessen“. Das Buch widmet sich vorrangig der Europapolitik und enthält dazu auch viele berechtigte kritische Hinweise, etwa zur Rolle des Europäischen Gerichtshofs oder der Eu-kommission. Im Zentrum aber steht die Beurteilung deutscher Europapolitiker, die „den europäischen Fortschritt durch immer mehr Zentralisation und Regeln auf Kosten nationaler Souveränität erzwingen“wollten, ein bisher durchaus unüblicher Kritikpunkt eines gestandenen ehemaligen deutschen Spitzenpolitikers.
Dies gilt auch für seinen klaren Hinweis darauf, es sei „politisch immer klüger, man überlässt wichtige Entscheidungen nicht einer Mehrheit, sondern der Einstimmigkeit im Rat“. Kein Mitgliedsstaat würde sich, so Dohnanyi, in existenziellen Fragen durch Mehrheiten überstimmen lassen, etwa in der Finanzpolitik, was aber genauso für die Sicherheits- und die Verteidigungspolitik gilt, weshalb Experten ja auch für einen europäischen Sicherheitsrat mit Vetorecht plädieren.
Dohnanyis Fazit: „Deutschlands nationales Interesse in Europa sind deswegen eindeutig nicht die Vereinigten Staaten von Europa, sondern es ist eine evolutionär fortschreitende Konföderation“, eine klare Absage an entsprechende Passagen in der Koalitionsvereinbarung der Ampelregierung. Als ehemaliger Vorsitzender des Koordinierungsausschusses der Staatssekretäre unter Bundeskanzler Helmut Schmidt ist Dohnanyi ein Kenner der europapolitischen Materie.
Anders sieht es bei der Sicherheitspolitik aus. Hier steht Dohnanyi unter dem Eindruck seiner Teilnahme an einer Nato-militärübung Ende der 1970er-jahre, die ihm schlagartig die damalige Gefährdung des geteilten Deutschlands im Kalten Krieg bewusst machte – konventionell wie nuklear. Daraus dürfte sich auch seine noch in der
Rückschau einseitige Glorifizierung der damaligen Spd-russlandpolitik erklären: „Nur“Entspannungspolitik könne die Kriegsgefahr in Europa verringern, „nur“Diplomatie und Zusammenarbeit mit Russland könnten Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa schaffen. Dies ignoriert völlig die Erfahrung, dass erst Abschreckung und Verteidigungsfähigkeit den Erfolg der Diplomatie ermöglichten, ein Defizit, das er lange mit der Mehrheit seiner Partei teilte.
Seine sicherheitspolitischen Folgerungen offenbaren deshalb die tiefe Orientierungslosigkeit und Verunsicherung deutscher politischer Führungsschichten, die nach wie vor Zuflucht im „Weiter so“suchen, als ob sie dies in den Genen hätte. Vorbei offenbar die alte Spd-vorstellung von der „Selbstbehauptung Europas“. Stattdessen die Reduzierung der EU auf Wirtschaftsfragen: Europa könne „nur“als Wirtschaftsmacht bestehen. Die mangelnde Tragfähigkeit dieses Ansatzes zeigen heute diejenigen, die angesichts des Kriegs in der Ukraine plötzlich die Bellizisten geben, von „nationalen Interessen“aber nach wie vor nichts wissen wollen. Da kann man Dohnanyi nur zustimmen, wenn er mit Blick auf die Usancen in der Welt und in
Europa hervorhebt: „Nationale Interessen sind kein Nationalismus“.
Das Buch ist eindeutig ein Buch des Übergangs von einer Epoche in eine neue. Ähnlich wie damals die deutsche Wiedervereinigung und das Ende des Kalten Kriegs hat heute der Ukraine-krieg viele vermeintliche Gewissheiten überholt und als aktuelle Irrtümer aufgezeigt: Dies gilt heute vor allem für die Einschätzung militärischer Macht, ohne die jeder Diplomatie der Unterbau fehlen muss. Länder wie Japan oder Südkorea, die mit den Deutschen in dieser Hinsicht durchaus eine ähnliche historische Vergangenheit teilen, sind hier schon viel weiter, gerade auch bei der Verteidigungs- und Abschreckungspolitik.
Doch aller Anfang ist bekanntlich schwer. Dohnanyi kommt das Verdienst zu, als erster namhafter deutscher Politiker damit begonnen zu haben, die ein oder andere heilige Kuh zu schlachten, zumindest in der Europapolitik. Dies wiegt einige überkommenen Fehler in der Sicherheitspolitik zwar nicht auf, macht sein Buch aber lesenswert. Andere Autoren werden seinem Weg folgen und fortsetzen, was Dohnanyi mit diesem Buch begonnen hat.