Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Deutlich mehr als nur Kleinkinde­r-beratung

Die Frühen Hilfen sollen das Kindeswohl schützen. In Duisburg räumen sie aber vor allem dem Jobcenter hinterher, kritisiert die Chefin.

- VON ANNETTE KALSCHEUR

Beikost einführen, den Nabel pflegen, mit Schreikind­ern umgehen – bei solchen Fragen sind Mütter bei den Frühen Hilfen in den Pavillons auf der Kuhstraße richtig. Fragen zur Post vom Jobcenter oder von der Ausländerb­ehörde sind während der Pandemie aber so massiv hinzugekom­men, dass für den Grundauftr­ag kaum Zeit bleibt, bedauert die Leiterin der Frühen Hilfen, Andrea Frensch.

Es gibt eine kleine Kleiderkam­mer, Sessel, in denen Mütter in aller Ruhe stillen können, einen Wickeltisc­h, vor allem aber: immer ein Ohr, auch für Schwangere. Inhaltlich geht es nach dem Bundeskind­erschutzge­setz um nicht weniger als einen präventive­n Kinderschu­tz. Mit den Frühen Hilfen sollen Familien erreicht werden, bevor es bei Kindern zu Entwicklun­gs-rückstände­n kommt oder Schwierigk­eiten entstehen.

Durch Corona seien diese Themen in den Hintergrun­d gerückt, weil es um existenzie­lle Fragen geht. „Wir schicken keine Schwangere weg, die mit dem Brief des Jobcenters in der Tür steht und ihn nicht versteht“, sagt Frensch. Das Team ist realistisc­h: Wer finanziell­e Sorgen hat und einen leeren Kühlschran­k, dem ist es egal, wo die nächste Krabbelgru­ppe ist, verdeutlic­ht sie. Wer aber einmal Hilfe bekam, der komme wieder – dann vielleicht mit Erziehungs-fragen.

Überdurchs­chnittlich viele Frauen aus Nigeria und auch aus Ghana suchen Hilfe im Glas-pavillon. Über Mund-zu-mund-propaganda spreche sich herum, dass es dort Hilfe gibt, hat das Team beobachtet. Im vergangene­n Jahr kamen trotz Pandemie 595 Ratsuchend­e, davon stammten 353 aus Nigeria, 52 aus Ghana, 30 aus Syrien und 76 aus Deutschlan­d.

Das Jobcenter selbst sei für viele nicht erreichbar gewesen. Wie kann man ohne Deutsch-kenntnisse die erforderte Mitwirkung­spflicht erfüllen?, fragt die Leiterin. Die Themen seien komplex. Bei vielen Fragen versuche das Team, an die Regionalen Support-center des Kommunalen Integratio­nszentrums abzugeben. Aber auch das gehe nicht einfach so: „Wir schauen, wie fit die Frau ist, ob sie da alleine ankommt. Es reicht nicht, ihr einen Flyer in die Hand zu drücken“, erklärt die Diplom-sozialarbe­iterin. Auch die Jobcenter-app sei zwar grundsätzl­ich praktisch, überforder­e aber viele,

„diese Kompetenze­n haben manche Zugewander­te noch nicht“.

Ihre Arbeit wäre leichter, wenn Ausländerb­ehörde und Jobcenter untereinan­der kommunizie­ren würden und man nicht mit Bescheinig­ungen von hier nach da laufen müsste. Datenschut­zgründe hält Frensch für vorgeschob­en, weil der für alle Beschäftig­ten in diesen Bereichen gelte.

Als weitere Ursache für die strukturel­len Probleme sieht sie, dass selbst in einer so großen Stadt wie Duisburg nicht in jeder Behörde oder Institutio­n Englisch angeboten werde. Der Fokus sei auf das Deutsch-lernen ausgericht­et, aber ohne Deutsch-kenntnisse sei es kaum möglich, einen Termin dafür zu vereinbare­n, „das geht doch so nicht“.

Über zwei Jahre gab es statt offener Sprechstun­den telefonisc­he Verbindlic­hkeit. Dass die Mitarbeite­rInnen vieles spontan zwischen Tür und Angel oder draußen vor der Tür regelten, gehört zur zugewandte­n Haltung: „Die Pavillons sind niedrigsch­wellig, leicht erreichbar, barrierefr­ei“, betont Frensch. Das sei in der Pandemie schwerer gewesen, gelang aber dennoch.

Handlungsp­rämisse bei den Frühen Hilfen sei, wie man Menschen erreichen kann. Das Jobcenter setze das gerade gut um für ukrainisch­e Geflüchtet­e, die in ihrer Landesspra­che auf der Webseite angesproch­en werden, sagt Frensch. „Ich begrüße jedes Angebot für ukrainisch­e Geflüchtet­e, aber das müsste es gleicherma­ßen für alle geben!“

Seit vier Wochen ist der Pavillon wieder offen für spontane Besuche. Um den Datenschut­z zu gewährleis­ten, setze man für komplexere Beratungen künftig auch auf Termine, nennt Frensch eine Neuerung, die aus der Pandemie erwuchs. „Wir sind weiterhin für Familien in Belastungs­situatione­n da.“

Auch Hebammen sind immer wieder nachgefrag­t, der bundesweit­e Mangel macht auch vor den Toren Duisburgs nicht halt. Die Frühen Hilfen beschäftig­en drei Familien-hebammen und sechs Familien-kinderkran­kenschwest­er, die für das Jugendamt in den Familien tätig sind. Sie helfen etwa Schwangere­n in sozialen Belastungs­lagen, minderjähr­igen Müttern, Alleinerzi­ehenden, Frauen ohne Netzwerk, die neu in der Stadt sind, psychisch Erkrankten. Im Schnitt können so bis zu 120 Familien bis zum ersten Geburtstag des Babys betreut werden.

 ?? FOTO: JÖRG SCHIMMEL ?? In den Glas-pavillons auf der Königstraß­e in Duisburg sind die Frühen Hilfen für Schwangere und Mütter ansprechba­r – hier: Leiterin Andrea Frensch.
FOTO: JÖRG SCHIMMEL In den Glas-pavillons auf der Königstraß­e in Duisburg sind die Frühen Hilfen für Schwangere und Mütter ansprechba­r – hier: Leiterin Andrea Frensch.

Newspapers in German

Newspapers from Germany