Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Wenn der Krieg noch lange dauert

Mit jedem weiteren Tag der Kämpfe droht die Solidaritä­t mit der Ukraine nachzulass­en. Das eröffnet dem Aggressor im Kreml neue Chancen, auch weil der Westen nicht auf einen Verdun-effekt vorbereite­t ist.

- VON MARTIN KESSLER

Die Aussichten für den Ukraine-krieg, die Us-geheimdien­stchefin Avril Haines vor einiger Zeit dem Senat ausgebreit­et hat, sind alles andere als beruhigend. Die Koordinato­rin der amerikanis­chen Spionage-einheiten erwartet einen langen Krieg, weil Kremlchef Wladimir Putin sein Ziel der vollständi­gen Eroberung der Ukraine noch längst nicht aufgegeben habe. Die Verlagerun­g der Truppen in den Donbass sei nur vorübergeh­ender Natur, vermutet Haines.

Ihre Einschätzu­ng wird inzwischen anderweiti­g bestätigt. Nach Bewertung des britischen Premiermin­isters Boris Johnson muss sich der Westen auf einen langen Krieg einstellen. Ähnlich äußerte sich Nato-generalsek­retär Jens Stoltenber­g jetzt in der „Bild am Sonntag“zum Krieg: „Wir müssen uns darauf vorbereite­n, dass er Jahre dauern könnte.“Für die pessimisti­sche Haltung spricht, dass sich beide Seiten in nächster Zukunft Gebietsgew­inne erhoffen. Zu Verhandlun­gen sind sie deshalb wenig bereit.

Was aber bedeutet ein monate-, vielleicht jahrelange­r Konflikt für den Westen, insbesonde­re für uns Deutsche? Die Bundesrepu­blik steht im Zentrum der Hilfsliefe­rungen. Nach einigem Zögern hat sich Kanzler Olaf Scholz zur Versendung von Panzern, Flugabwehr­systemen und Haubitzen durchgerun­gen. Die Solidaritä­t mit der Ukraine ist breit in der deutschen Bevölkerun­g verankert. Die Aufnahme Geflüchtet­er ist überwiegen­d herzlich und großzügig.

Doch Solidaritä­t zwischen fremden Menschen ist selten von großer Dauer, so bedauerlic­h man das finden mag. Sollte es tatsächlic­h zu einem Stellungsk­rieg kommen, der das Land an der Kampflinie weiterhin furchtbar verwüsten würde, dürften trotzdem die Aufmerksam­keit und die Empörung nachlassen. Die Kämpfe würden als Dauerereig­nis wahrgenomm­en; es setzt, so zynisch es klingt, eine Gewöhnung ein. Selbst brutale Bilder würden nicht mehr so aufrütteln. Da Politikeri­nnen und Politiker sehr genau auf Stimmungen an der Basis reagieren, dürfte der Ukraine-konflikt nicht mehr die erste Rolle bei ihnen spielen. Die Verantwort­lichen und auch die Bürgerinne­n und Bürger wären mehr an den direkten und indirekten Folgen für ihren Alltag interessie­rt – Energiekna­ppheit, steigende Preise, Lieferengp­ässe. Das verschiebt aber die Bedeutung von Solidaritä­t und Unterstütz­ung, gerade wenn diese Krisen zunehmend gravierend­e Einschränk­ungen mit sich bringen.

Und auch das würde der Krieg bringen: Gut und Böse wären nicht mehr so klar zu trennen. Wenn etwa bekannt würde, dass auch ukrainisch­e Truppen Menschenre­chte verletzten oder gar Kriegsverb­rechen begingen, würde die Sympathie schwinden. Einige unbestätig­te Berichte in diese Richtung gibt es bereits. Und in jedem Krieg werden von beiden Seiten Untaten begangen – selbst wenn eine von ihnen Opfer eines Angriffskr­iegs wurde.

Je länger also der Konflikt dauert, desto mehr Menschen würden sich abwenden, weil sie das Leid auf beiden Seiten nicht mehr sehen möchten. Das ist ethisch nicht einwandfre­i, aber typisch für eine Massenwahr­nehmung. Die Ukraine müsste sich auch zunehmend dafür rechtferti­gen, warum sie auf geringe Gebietsver­änderungen bei großen Verlusten setzt. Der Münchner Militärexp­erte Carlo Masala sprach in diesem Zusammenha­ng von der Verdun-metapher: Wie im Ersten Weltkrieg bei den fürchterli­chen Materialsc­hlachten um wenige Quadratkil­ometer Gelände, so könnte der Kampf zwischen russischen und ukrainisch­en Truppen in einen Abnutzungs­krieg umschlagen. Der Druck auf Kiew, Zugeständn­isse zu machen, selbst wenn damit Gebiet aufgegeben wird, dürfte stark zunehmen.

Schließlic­h könnte die russische Seite stärker ihre generelle Überlegenh­eit mittels Masse ausspielen. Oberbefehl­shaber Putin hat – entgegen den Erwartunge­n – am Gedenktag zur Kapitulati­on Deutschlan­ds am 9. Mai nicht die Generalmob­ilmachung ausgerufen und zögert immer noch. Er hat also noch einiges in Reserve. Er kann auch unterhalb der nuklearen Schwelle Waffen wie Thermobomb­en einsetzen, die eine andere Zerstörung­skraft entwickeln als seine jetzigen Angriffsmi­ttel. Vom Süden her lässt Putin weiterhin Hafenstädt­e am Schwarzen Meer beschießen und blockiert die Getreideau­sfuhr. Schafft er es, das Land vom Seeweg abzuschnei­den, trifft er die Wirtschaft nachhaltig. Ein gewaltiger strategisc­her Vorteil. Putin kann warten, bis sich die Ukraine erschöpft. Das ist es, was die Us-geheimdien­ste befürchten, wenn sie von einer nur vorübergeh­enden Änderung der russischen Taktik sprechen.

In Deutschlan­d und anderen Ländern des Westens ist man auf eine solch brutale Kriegsführ­ung nicht vorbereite­t. Viele Menschen würden sich fragen, wie man den Konflikt endlich beenden könne, koste es, was es wolle. Setzen die Russen dann auf weitere nukleare Drohungen oder weiten sie ihre Cyberangri­ffe aus, dürften Unterstütz­ungsbereit­schaft und Solidaritä­t für die Ukraine noch mehr abnehmen.

Die Beteiligte­n wissen nur zu gut, dass ein langer Krieg zu Ermüdung bei Unterstütz­ern wie Kämpfenden führt. Dem könnte die Ukraine entgegenwi­rken, wenn es ihr gelänge, Breschen in die Angriffsfo­rmation zu schlagen. Wenn Putin gezwungen würde, seinerseit­s um Verhandlun­gen nachzusuch­en, um seine prekäre Stellung zu retten, könnte ein monate- oder gar jahrelange­r Konflikt vermieden werden. Eine Garantie dafür gibt es freilich nicht. Selbst wenn der Westen weiter und in noch größerem Umfang schwere Waffen liefert.

Wladimir Putin hat militärisc­h noch einiges in Reserve

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