Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Wenn der Krieg noch lange dauert
Mit jedem weiteren Tag der Kämpfe droht die Solidarität mit der Ukraine nachzulassen. Das eröffnet dem Aggressor im Kreml neue Chancen, auch weil der Westen nicht auf einen Verdun-effekt vorbereitet ist.
Die Aussichten für den Ukraine-krieg, die Us-geheimdienstchefin Avril Haines vor einiger Zeit dem Senat ausgebreitet hat, sind alles andere als beruhigend. Die Koordinatorin der amerikanischen Spionage-einheiten erwartet einen langen Krieg, weil Kremlchef Wladimir Putin sein Ziel der vollständigen Eroberung der Ukraine noch längst nicht aufgegeben habe. Die Verlagerung der Truppen in den Donbass sei nur vorübergehender Natur, vermutet Haines.
Ihre Einschätzung wird inzwischen anderweitig bestätigt. Nach Bewertung des britischen Premierministers Boris Johnson muss sich der Westen auf einen langen Krieg einstellen. Ähnlich äußerte sich Nato-generalsekretär Jens Stoltenberg jetzt in der „Bild am Sonntag“zum Krieg: „Wir müssen uns darauf vorbereiten, dass er Jahre dauern könnte.“Für die pessimistische Haltung spricht, dass sich beide Seiten in nächster Zukunft Gebietsgewinne erhoffen. Zu Verhandlungen sind sie deshalb wenig bereit.
Was aber bedeutet ein monate-, vielleicht jahrelanger Konflikt für den Westen, insbesondere für uns Deutsche? Die Bundesrepublik steht im Zentrum der Hilfslieferungen. Nach einigem Zögern hat sich Kanzler Olaf Scholz zur Versendung von Panzern, Flugabwehrsystemen und Haubitzen durchgerungen. Die Solidarität mit der Ukraine ist breit in der deutschen Bevölkerung verankert. Die Aufnahme Geflüchteter ist überwiegend herzlich und großzügig.
Doch Solidarität zwischen fremden Menschen ist selten von großer Dauer, so bedauerlich man das finden mag. Sollte es tatsächlich zu einem Stellungskrieg kommen, der das Land an der Kampflinie weiterhin furchtbar verwüsten würde, dürften trotzdem die Aufmerksamkeit und die Empörung nachlassen. Die Kämpfe würden als Dauerereignis wahrgenommen; es setzt, so zynisch es klingt, eine Gewöhnung ein. Selbst brutale Bilder würden nicht mehr so aufrütteln. Da Politikerinnen und Politiker sehr genau auf Stimmungen an der Basis reagieren, dürfte der Ukraine-konflikt nicht mehr die erste Rolle bei ihnen spielen. Die Verantwortlichen und auch die Bürgerinnen und Bürger wären mehr an den direkten und indirekten Folgen für ihren Alltag interessiert – Energieknappheit, steigende Preise, Lieferengpässe. Das verschiebt aber die Bedeutung von Solidarität und Unterstützung, gerade wenn diese Krisen zunehmend gravierende Einschränkungen mit sich bringen.
Und auch das würde der Krieg bringen: Gut und Böse wären nicht mehr so klar zu trennen. Wenn etwa bekannt würde, dass auch ukrainische Truppen Menschenrechte verletzten oder gar Kriegsverbrechen begingen, würde die Sympathie schwinden. Einige unbestätigte Berichte in diese Richtung gibt es bereits. Und in jedem Krieg werden von beiden Seiten Untaten begangen – selbst wenn eine von ihnen Opfer eines Angriffskriegs wurde.
Je länger also der Konflikt dauert, desto mehr Menschen würden sich abwenden, weil sie das Leid auf beiden Seiten nicht mehr sehen möchten. Das ist ethisch nicht einwandfrei, aber typisch für eine Massenwahrnehmung. Die Ukraine müsste sich auch zunehmend dafür rechtfertigen, warum sie auf geringe Gebietsveränderungen bei großen Verlusten setzt. Der Münchner Militärexperte Carlo Masala sprach in diesem Zusammenhang von der Verdun-metapher: Wie im Ersten Weltkrieg bei den fürchterlichen Materialschlachten um wenige Quadratkilometer Gelände, so könnte der Kampf zwischen russischen und ukrainischen Truppen in einen Abnutzungskrieg umschlagen. Der Druck auf Kiew, Zugeständnisse zu machen, selbst wenn damit Gebiet aufgegeben wird, dürfte stark zunehmen.
Schließlich könnte die russische Seite stärker ihre generelle Überlegenheit mittels Masse ausspielen. Oberbefehlshaber Putin hat – entgegen den Erwartungen – am Gedenktag zur Kapitulation Deutschlands am 9. Mai nicht die Generalmobilmachung ausgerufen und zögert immer noch. Er hat also noch einiges in Reserve. Er kann auch unterhalb der nuklearen Schwelle Waffen wie Thermobomben einsetzen, die eine andere Zerstörungskraft entwickeln als seine jetzigen Angriffsmittel. Vom Süden her lässt Putin weiterhin Hafenstädte am Schwarzen Meer beschießen und blockiert die Getreideausfuhr. Schafft er es, das Land vom Seeweg abzuschneiden, trifft er die Wirtschaft nachhaltig. Ein gewaltiger strategischer Vorteil. Putin kann warten, bis sich die Ukraine erschöpft. Das ist es, was die Us-geheimdienste befürchten, wenn sie von einer nur vorübergehenden Änderung der russischen Taktik sprechen.
In Deutschland und anderen Ländern des Westens ist man auf eine solch brutale Kriegsführung nicht vorbereitet. Viele Menschen würden sich fragen, wie man den Konflikt endlich beenden könne, koste es, was es wolle. Setzen die Russen dann auf weitere nukleare Drohungen oder weiten sie ihre Cyberangriffe aus, dürften Unterstützungsbereitschaft und Solidarität für die Ukraine noch mehr abnehmen.
Die Beteiligten wissen nur zu gut, dass ein langer Krieg zu Ermüdung bei Unterstützern wie Kämpfenden führt. Dem könnte die Ukraine entgegenwirken, wenn es ihr gelänge, Breschen in die Angriffsformation zu schlagen. Wenn Putin gezwungen würde, seinerseits um Verhandlungen nachzusuchen, um seine prekäre Stellung zu retten, könnte ein monate- oder gar jahrelanger Konflikt vermieden werden. Eine Garantie dafür gibt es freilich nicht. Selbst wenn der Westen weiter und in noch größerem Umfang schwere Waffen liefert.
Wladimir Putin hat militärisch noch einiges in Reserve