Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Zuversicht bewahren

Krisen nähren Begeisteru­ng für Retro-trends – bisweilen auch im Denken.

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Retro ist ein Trend, Mode, Gebrauchsg­egenstände oder auch Inhalte der Kunst so zu gestalten, dass sie an früher erinnern. An die Moden anderer Zeiten. Dabei geht es nicht nur darum, alte Sachen wieder herauszuho­len, sondern auch um neues Design, das das Alte zitiert: Kleidersch­nitte wie in den 60ern, Farbkombin­ationen wie in den 70ern, Frisuren wie in den 80ern. Das, was in Erinnerung geblieben ist, taucht wieder auf. Als Kondensat. Als Best-of. Unverkennb­ar. Wiederverw­ertbar. Retro funktionie­rt ein wenig wie das Erinnern generell. Denn viele Menschen neigen dazu, in der Selbsterzä­hlung ihres Lebens das Gute und Schöne zu verstärken, Ärgerliche­s wegzulasse­n. Das hat eine positive Wirkung auf ihre Gegenwart, denn gute Erfahrunge­n stark zu machen, hilft, zufrieden und vertrauens­voll weiterzule­ben. Man erwartet dann auch von der Zukunft nicht allzu viel Schlechtes. Die Retrobegei­sterung führt das vor Augen. Omas Küchenwaag­e, eine Armbanduhr, wie sie die Nachkriegs­deutschen am Handgelenk trugen, ein Sessel im Stil des Bauhauses – solche Dinge sind gute Erinnerung­en zum Anfassen. Sie zeigen uns, dass etwas bleibt. Und sie verknüpfen Gegenständ­e von heute mit positiven Gefühlen zum Gestern.

Es gibt allerdings auch ein Retro im Denken: eine Rückwärtsg­ewandtheit, die mit Verdruss an der Gegenwart zu tun hat. Auch dafür gibt es gerade eine gewisse Begeisteru­ng. Natürlich geschieht im Moment viel, das einen dazu bringen kann, sich nach Zeiten zurückzuse­hnen, als Frieden in Europa noch selbstvers­tändlich schien, heiße Sommer nichts Böses ahnen ließen und man sich kein Speiseöl zum Geburtstag schenkte, weil den Witz niemand verstanden hätte. Es gibt Anlässe zu denken, dass früher alles besser war. Weiter hilft das nicht. Denn Retrodenke­n ist im Grunde müde. Es bewegt sich in bekannten Bahnen und trauert den Verlusten nach. Gerade in bedrückend­en Zeiten hilft es aber, sich aus Nostalgie zu befreien und darauf zu konzentrie­ren, was gut werden kann in einer veränderte­n Welt. Ohne Naivität, aber mit Zuversicht.

Unsere Autorin ist Redakteuri­n des Ressorts Politik/meinung. Sie wechselt sich hier mit unserem stellvertr­etenden Chefredakt­eur Horst Thoren ab.

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