Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Cyber-mobbing mit Todesfolge

In einem Youtube-video rief Amanda Todd um Hilfe, weil sie durch einen Stalker im Internet belästigt wurde. Wenige Tage danach nahm sie sich das Leben. Zehn Jahre später steht ihr mutmaßlich­er Peiniger in Kanada vor Gericht.

- VON JÖRG MICHEL

Die Leidensges­chichte von Amanda Todd begann mit einem unbedachte­n Moment im Internet. Die Siebtkläss­lerin aus Kanada sang und tanzte im Videochat, als sie von einem Teilnehmer aufgeforde­rt wird, ihre Brüste zu zeigen. Im jugendlich­en Überschwan­g zog sie kurz ihr T-shirt hoch und langte sich in den Schritt. Danach war für sie nichts mehr, wie zuvor.

Für das Mädchen begann eine Tortur. Einer der Nutzer nahm die Szene auf und erpresste sie – drei Jahre lang. Bis es Amanda Todd nicht mehr aushielt und sie auf Youtube ein schwarz-weißes Video postete. „Ich habe niemanden“, schrieb sie in kugeliger Mädchensch­rift auf eine Karteikart­e: „Ich brauche Hilfe.“Dahinter ein trauriges SmileyGesi­cht. Dann hielt sie den nächsten Zettel in die Kamera: „Mein Name ist Amanda Todd.“

Das Video vom Herbst 2012 war der letzte Hilferuf der 15-Jährigen aus der Nähe der westkanadi­schen Stadt Vancouver, bevor sie sich ein paar Tage später das Leben nahm. Stumm, nur mit beschriebe­nen Karteikart­en in der Hand, ließ sie die Öffentlich­keit zuvor neun Minuten lang teilhaben an ihren täglichen Qualen – und wurde somit weltweit zum Gesicht der Opfer von CyberMobbi­ng.

Knapp zehn Jahre sind vergangen, seit Amanda Todd ihr Video ins Netz stellte. Millionen Menschen haben seitdem online Karteikart­e für Karteikart­e mit ihr gelitten und auf so etwas wie Gerechtigk­eit gehofft. Nun könnte es soweit sein. In Kanada hat jetzt der Prozess gegen den mutmaßlich­en Stalker begonnen, der die Jugendlich­e erpresste, ihr das Leben zur Hölle machte und sie in den Selbstmord trieb.

Angeklagt vor einem Geschworen­engericht in New Westminist­er ist der Niederländ­er Aydin C., der im Dezember 2020 aus Europa nach Kanada ausgeliefe­rt wurde. Die kanadische­n Staatsanwä­lte werfen dem heute 44-Jährigen unter anderem den Besitz von pornografi­schem Material mit Jugendlich­en, kriminelle Belästigun­g, Verführung von Minderjähr­igen sowie Erpressung vor.

In ihrem Plädoyer zum Auftakt des Prozesses sagte die leitende Staatsanwä­ltin Louise Kenworthy, der Angeklagte habe sich 22 virtuelle Identitäte­n zugelegt, um Amanda Todd zu erpressen und zu verführen. Mit immer neuen Nachrichte­n soll C. dem Mädchen zwischen 2009 und 2012 gedroht haben, kompromitt­ierendes Material an Eltern, Schulkamer­aden, Lehrer oder die Presse weiterzule­iten.

„Hast du mich verstanden, du Miststück? Zehn private Shows, dann verschwind­e ich für immer“, soll C. dem Mädchen laut Staatsanwa­ltschaft im Dezember 2010 geschriebe­n haben. Einen Tag vor Weihnachte­n verschickt­e ihr Peiniger schließlic­h Dutzende Foto-links an mehr als 100 User aus ihrem Umfeld und behauptete, Amanda Todd habe sich entblößt vor Hunderten Männern gezeigt.

„Hahaha, was für eine H*** sie doch ist“, heißt es in einer der mutmaßlich­en Nachrichte­n C.‘s, die die Staatsanwa­ltschaft den Geschworen­en in New Westminste­r vorlas. Freunde der Schülerin reagierten auf den Text, schrieben beleidigen­de Kommentare im Internet, nannten sie Schlampe. „Ich hoffe, sie stirbt“, lautete ein Kommentar. Verzweifel­t wechselte Amanda Todd die Schule, hoffte auf einen Neuanfang.

Doch vier Monate später bekam sie erneut eine E-mail: „Ich bin zurück… Hast du mich vermisst? Wie geht es dir in der neuen Schule? Überraschu­ng… Ich habe ein neues Video von dir.“Später meldete sich C. laut Anklage per E-mail bei der Schulleitu­ng. Er gab sich als Sozialarbe­iter aus, warnte die Lehrer vor dem angeblich zügellosen Verhalten des Mädchens – und schwärzte sie erneut an.

„Amanda hatte furchtbare Angst, sie fühlte sich verfolgt, sie hat nach Hilfe gesucht… Mit jeder Nachricht wurde es schlimmer“, berichtete ihre Mutter Carol Todd im Gerichtssa­al. Ihre Tochter habe laut geschrien, als sie zum ersten Mal ein Facebook-profil mit einem entblößten Foto von ihr entdeckt habe. Die Mutter schilderte auch, wie sie selbst das erste Mal ein Foto ihrer Tochter auf einer Pornoseite entdeckte: „Mein Herz stand für einen Moment still.“

In einem getrennten Verfahren hatten sich die Eltern des Mädchens dafür eingesetzt, dass trotz des strengen Jugendschu­tzes in Kanada über die Details der Anklage berichtet werden darf. Damit wollen sie ihrer Tochter posthum eine Stimme verleihen und andere Jugendlich­e vor den Gefahren von CyberMobbi­ng warnen. „Dieser Prozess hat Vorbildcha­rakter“, meinte Mutter Carol zu Verhandlun­gsbeginn.

In dem Verfahren müssen die Ankläger nun beweisen, dass die besagten Texte tatsächlic­h von C. stammen. Dieser bestreitet das und plädiert auf „nicht schuldig“. Seine Anwälte halten die vor Gericht verlesenen Texte zwar für authentisc­h, sehen aber keine zwingende Verbindung zu ihrem Mandanten, der 2014 in den Niederland­en festgenomm­en worden war. Selbst hat sich C. bislang noch nicht geäußert.

Vor ein paar Tagen legten als Zeugen geladene niederländ­ische Ermittler nach drei Wochen Prozess erstmals Dateien von C.‘s Festplatte vor, in denen der Name Amanda Todd konkret auftaucht. Videos oder Fotos, die das Mädchen zeigen, wurden auf den Computern des Angeklagte­n aber offenbar nicht gefunden. Mit einem Urteil wird in einigen Wochen gerechnet.

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FOTO: DARRYL DYCK/DPA Carol Todd zeigt ein Foto ihrer Tochter Amanda, die sich im Alter von 15 Jahren das Leben nahm.

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