Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Ein Berg von Bedrohungen
Die 27 Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union wirken stets wie befreit, wenn es ihnen in schwierigen Verhandlungen gelungen ist, zu einem einstimmigen Votum zu kommen. So war es auch bei diesem JuniGipfel wieder, als die Gipfelteilnehmer bei der Verleihung des Beitrittsstatus für die Ukraine und für die Republik Moldau eine Einigkeit erzielten, wie sie sie selbst zuvor nicht für möglich gehalten hatten. Sie feierten den Schritt als „historisch“. Doch die geschichtlich größte Herausforderung für die Europäische Union steht erst noch bevor.
Der Zwei-tage-feldzug, den Putin anfangs im Sinn hatte, ist wegen völliger Verkennung der Lage gescheitert. Bei einem Zwei-jahre-krieg sieht die Sache schon anders aus. Damit gewinnt die eigentliche Herausforderung für die EU Konturen. Da ist das abnehmende Interesse an dem brutalen Krieg mit der Frage, ob die Verantwortlichen die Ukraine auch dann noch mit den dringend benötigten schweren Waffen beliefern, wenn die eigene Bevölkerung sich um andere Sorgen kümmert. Da ist das russische Militärpotenzial, das der Ukraine nicht mehr auf einen Schlag, aber Kilometer für Kilometer die Luft zum Atmen nimmt und ihre Abhängigkeit vom Westen zugleich vergrößert. Da sind die explodierenden Energiepreise, die auch sozialen Sprengstoff mit vielen Verwerfungen in den Eu-ländern mit sich bringen.
Ob die 27 diesen Berg von Bedrohungen tatsächlich untergehakt bewältigen können, wie es der Kanzler versichert, ist angesichts der Uneinigkeit auf vergleichsweise nebensächlichen Konfliktfeldern eher zu bezweifeln. Historisch ist nicht der Beitrittsstatus der Ukraine, sondern vor allem, ob die EU unter nie gekanntem Druck von außen wie von innen auseinanderfliegt oder sich in einer wirklich existenziellen Bedrohung als einig und stark erweist.