Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
„Von Menschen wie Ihnen wurde Panikmache aufgebaut“
Die Klimaaktivistin und der Gewerkschaftschef diskutieren über Kohlekraftwerke, Flüssiggas und ein deutsches Embargo. In einem Punkt sind sie einig: Flugreisen und Fleisch sind in Deutschland viel zu billig.
Sie kämpft für das Klima, er für die Arbeitsplätze. Sie ist das Gesicht der Protestbewegung Fridays for Future. Er hat als Gewerkschaftschef den Kohleausstieg verhandelt. Wir baten Luisa Neubauer und Michael Vassiliadis, Chef der IG BCE, in unserer Berliner Redaktion zum Streitgespräch. Sie kam per Rad, er per Auto. Die Stimmung war mal hitzig, mal frostig. Am Ende gab es eine Verabredung.
Frau Neubauer, der Krieg gegen die Ukraine stellt alles in den Schatten. Kommt der Klimaschutz jetzt unter die Räder?
Der Krieg selbst stellt nichts in den Schatten, es ist unser Umgang damit. Wenn man will, kann man die Dinge durchaus dort zusammendenken, wo sie zusammenhängen. Oft werden Krisen und Krisenpolitik miteinander verwechselt.
Gemeinsam sind wir entsetzt, wie brutal dieser Krieg ist. Er verändert Europa – und lässt uns enger zusammenrücken. Wir müssen die Krise jetzt nutzen, um das, was der Kanzler Zeitenwende genannt hat, auch zur Zeitenwende in der Politik zu machen.
Stimmt. Aber aktuell sieht es gar nicht danach aus. Wir werden noch tiefer in die Klimakrise katapultiert, weil sich Regierungen, wie auch die Bundesregierung, entschieden haben, wegen des Ukraine-kriegs ihre Klimaversprechen zu brechen. Olaf Scholz bewirbt neue Gasförderung im Senegal, man plant den Bau von festen LNG-TERminals in Norddeutschland und verabschiedet einen Tankrabatt. All das verlängert das fossile Zeitalter, statt es so schnell wie möglich zu beenden. Wenn nicht schnellstmöglich eingelenkt wird, werden die Klimaversprechen unerreichbar. Das ist verantwortungslos, denn es gäbe ja Alternativen.
Warum halten Sie die vom Kanzler angekündigten Terminals für Flüssiggas (LNG) für falsch? Sie sollen doch den Abschied von russischem Gas ermöglichen.
Schwimmende Lng-terminals als Übergangslösung sind in Ordnung. Sie können provisorisch Lücken füllen, ohne neue Abhängigkeiten zu schaffen. Doch wenn wir auf Druck der fossilen Industrie tatsächlich feste Lng-terminals an Land bauen, wollen diese auch über Jahrzehnte ausgelastet sein. So kommen wir nie los von der fossilen Energie. Wir sind schon heute auf dem Klimapfad, den Forscher und Forscherinnen als „Worst-case-szenario“bezeichnen. Diese Politik verstärkt das.
Die Lng-terminals bedeuten ja nicht, dass wir zusätzliches Erdgas ins Land holen. Wir ersetzen lediglich das russische Pipeline-gas durch Flüssiggas aus anderen Ländern.
Das stimmt doch nicht. Das Gesetz sieht vor, dass bis zu zwölf neue Lng-terminals gebaut werden, das übersteigt das Volumen der Importe aus Russland bei Weitem.
Also, ich weiß von gerade mal drei stationären LNG-PROjekten, die in Planung sind. Und die werden nicht gebaut, um die Nutzung der fossilen Energie zu zementieren, sondern um eine drohende Versorgungslücke abzuwenden. Deutschland und Europa haben sich klar verpflichtet, die Dekarbonisierung bis 2045 anzugehen. Wir sind längst auf dem Weg. Jetzt gilt es zu beweisen, dass Transformation auch sozial und ökonomisch nachhaltig gestaltet werden kann. Nur dann folgen uns auch andere Länder.
Ich würde auch gerne glauben, dass wir auf einem guten Weg sind. Das sind wir aber nicht, die Zahlen sprechen für sich. Unter dem Schleier der Überbrückung schafft die Bundesregierung massiv neue Abhängigkeiten von Autokraten. Dabei spielt die Lobbyarbeit der Gasindustrie eine große Rolle. Auffällig ist etwa, dass der Chemiekonzern BASF, in dessen Aufsichtsrat Sie sitzen, vor dem Untergang der Volkswirtschaft warnt, wenn es kein neues Gas gibt. Gleichzeitig operiert das Basf-tochterunternehmen Dea Wintershall weiter in Russland, im Land des Aggressors.
Nun ist das Reden vom Weltuntergang ja gerade in Mode…
Wollen Sie damit sagen, dass unsere Proteste nicht wissenschaftlich fundiert sind?
Nein, ich will nur Überzeichnungen vorbeugen – auf allen Seiten. In der deutschen Chemie-, Energieund auch Stahlindustrie gibt es ein klares Bekenntnis zum Klimaschutz. Die Unternehmen nehmen dafür richtig viel Geld in die Hand. Das müssten sie nicht tun, sie könnten auch einfach ihren Standort ins Ausland verlagern. Außerdem ist es nun mal Fakt, dass die Chemieindustrie Gas vor allem auch als Rohstoff braucht, um daraus beispielsweise Grundstoffe für Dünger,
Medikamente oder Kunststoffe herzustellen. Wir können uns also leicht ausmalen, was passiert, wenn diese Grundstoffe plötzlich fehlen sollten.
Ist ein Vorziehen des Kohleausstiegs auf 2030 noch möglich, wie es die Ampel-regierung vorhatte?
VASSILIADIS Ich habe nichts gegen ehrgeizige Ziele, auch nichts gegen den Kohleausstieg 2030 – wenn denn dann eine gesicherte Stromversorgung aus alternativen Quellen garantiert ist.
Um mich geht es nicht. Wenn wir ein mittelfristiges Interesse am Projekt Menschheit haben, dann müssen wir unsere globalen Klimaversprechen einhalten. Wenn wir jetzt die Kohlekraftwerke hochfahren, um kurzfristig Löcher zu stopfen, müssen wir vor 2030 aus der Kohle raus. Finden wir andere Wege, reicht ein Ausstieg bis spätestens 2030. Wir erwarten, dass sich auch die G7 zum Kohleausstieg bis spätestens 2030 bekennen. Unsere Lebensgrundlagen sind kein Accessoire der Demokratie, sie sind ihre Voraussetzung.
Ein anderer Vorwurf lautet, Klimaschutz sei nur etwas für Reiche.
…das stimmt, wenn er so schlecht gemacht ist wie beim Tankrabatt. Hier profitiert der, der das größte Auto hat. Es befeuert doch genau das Ungerechtigkeitsgefühl in der Bevölkerung, wenn drei Milliarden Euro Steuergeld genommen und einfach an die Mineralölkonzerne weitergegeben werden. Gute, gerechte Klimaschutzpolitik kommt dagegen vor allem den Ärmeren zugute – sie leben an den lauten, belasteten Straßen. Sie leiden besonders unter den Überschwemmungen, wie ich beim Besuch im Ahrtal sehen konnte, weil sie eben kein zweites Haus haben, das verschont blieb.
Wir müssen endlich Tempo machen bei der Energiewende. Einige Landesregierungen bremsen den Ausbau der Windenergie, der Netzausbau geht viel zu langsam, gerade in Süddeutschland. Hier müssen wir mehr Akzeptanz in der Bevölkerung schaffen. Doch was wir gerade erleben – Inflation, Mietenanstieg –, trifft vor allem Geringverdiener wie ein Keulenschlag. Wenn wir nicht gegensteuern und für Entlastung sorgen, droht nicht nur der Klimaschutz als Thema in den Hintergrund zu geraten, sondern auch eine Destabilisierung des gesellschaftlichen Gefüges.
Zu wenig und zu schlechter Klimaschutz wirkt ebenso destabilisierend auf die Gesellschaft. Und ja, ich stimme Ihnen zu, es muss in Sachen Erneuerbare viel, viel schneller gehen. Nicht zuletzt deswegen braucht es Fridays for Future und andere, die immer wieder deutlich machen, dass etwa Windkraftausbau kein Hobby, sondern angewandter Katastrophenschutz ist. Gleichzeitig müssen wir auch raus aus den Fossilen, sonst bringen uns auch die Windräder nichts. Da weigern sich viele Industrien, und scheinbar auch der Bundeskanzler, mitzuziehen.
Wie bringen wir Bürger und Wirtschaft dazu, die Klimawende wirklich zu schaffen?
Indem wir nicht länger reden, sondern machen. Pragmatismus ist gefragt. Es gibt zum Beispiel einen Widerspruch zwischen dem notwendigen Ausbau der erneuerbaren Energien und der heutigen Praxis der Naturschutzpolitik, die bisher häufig neue Windkraftanlagen verhindert. Wir müssen die Naturschutzstandards also anpassen. Möglich wäre da, zwischen Naturschutz- und Kulturflächen stärker zu differenzieren. Da ist Klimaminister Robert Habeck ja auch bereits dran – und das ist gut und richtig so. Wir müssen darüber hinaus gesellschaftliche Allianzen bilden. Ich biete Ihnen eine Allianz von IG BCE und Fridays for Future für einen konsequenten Ausbau der Erneuerbaren und Leitungen an…
Allianzen finde ich auch super. Über das Angebot denken wir nach, Herr Vassiliadis. Wir haben bloß keine Zeit für Allianzen, die am Ende bloß fossile Interessen grün waschen. Und solange auch die Industrien, die Sie in der IG BCE vertreten, die Einhaltung der Klimaziele blockieren, weil sie um jeden Preis mehr fossile Energien einfordern, haben wir ein Problem. Wir lassen uns aber nicht vereinnahmen. Und wir schauen nicht weg, wenn Energiewenden unterwandert werden.
Mit solchen Unterstellungen werden wir allerdings nicht weit kommen.
Sollte Deutschland ein Gasembargo gegenüber Russland verhängen?
NEUBAUER Das wäre völlig richtig. Wir fordern ein Gasembargo – seit über 100 Tagen finanzieren wir den Krieg mit, es ist absurd. Studien zeigen, dass das machbar ist.
Diese Studien zeugen von Unkenntnis der Wertschöpfungsketten. Mit einem sofortigen Embargo drohen gewaltige Produktionsausfälle in der Chemie – und in der Folge in nahezu allen anderen Industriebereichen, die ihre Grundstoffe weiterverarbeiten. Der zweitgrößte Gasverbraucher ist übrigens die Ernährungswirtschaft. Auch die Glas-, Papier- und Stahlindustrie könnten dichtmachen. Ein großer Teil der deutschen Wirtschaft hängt leider derzeit noch an Putins GasTropf. Um das zu ändern, brauchen wir übergangsweise das LNG-GAS.
Unkenntnis lasse ich mir nicht vorwerfen. Wissenschaftler der Leopoldina und des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung haben glasklar ausgerechnet, dass ein Gasembargo für Deutschland sehr wohl machbar wäre. In den letzten Monaten wurde von Menschen wie Ihnen, Herr Vassiliadis, Panikmache aufgebaut, um ein Embargo zu verhindern. Wir sind aber in einem Krieg. Meine Freunde in der Ukraine, die jeden Tag um ihr Leben fürchten, fragen sich: Was ist das für eine Debatte in Deutschland? Die Deutschen sprechen oberflächlich von Wohlstand, am Ende geht es aber doch immer um das Wohlergehen einzelner Industrien – und wir sterben hier. Wir sind moralisch verpflichtet, ein Embargo schnellstmöglich umzusetzen. Teuer ist ja nicht das Embargo an sich, sondern der Krieg, und den verlängern wir durch unsere anhaltenden Zahlungen an Putin.