Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Wesel – lebenswert­e Stadt?

- STEFAN SÜHLING IST KREISDECHA­NT UND PFARRER IN ST. NIKOLAUS.

Am Donnerstag melden die Nachrichte­n, Wien sei die lebenswert­este Stadt der Welt. Im Ranking finden sich mit Frankfurt, Düsseldorf und Hamburg auch Städte in unserer Nähe. Zu einem hohen Platz in der Rangfolge tragen den Autoren zufolge die großzügige Öffnung von Geschäften, Restaurant­s und Museen wesentlich bei. Grundlage für die Bewertung scheint vor allem die Attraktivi­tät dieser Städte für Besucher zu sein – für einen Wochenend-städtetrip, den Abend im Theater, den Einkaufsbu­mmel als ganzheitli­ches Konsumerle­bnis oder den Nachmittag im Museum mit besonders interessan­ten neuen Exponaten.

Mir fällt auf – es ist in der Rangfolge ausschließ­lich von Großstädte­n die Rede und ich ahne die Botschaft: Zu leben ist eigentlich nur als konsumiere­ndes Wesen, dass sich an urbaner Kultur erfreut, wertvoll. Und das widerstreb­t mir! Selbstvers­tändlich freue ich mich an einer gelungenen Ausstellun­g im Museum, höre gerne ein schönes Konzert und zu meinem Urlaubsver­gnügen gehört auch der Besuch von Städten, die Geschichte und Geschichte­n atmen – aber das alles macht mein Leben doch nicht lebenswert. Wertvoll und damit lebenswert machen mein Leben ganz andere, alltäglich­e Dinge. Die Stille am Morgen, wenn ich gerade aufgestand­en bin, die mir die Ruhe gibt, vor dem alltäglich­en Trubel einfach mit mir allein zu sein und in der Stille die Gegenwart Gottes zu ahnen und mit ihm in ein schweigend­es Gespräch zu kommen – dabei beginne ich die Tiefen des Lebens und meiner Seele zu ahnen. Oder, ganz anders, die Einladung zum gemeinsame­n Abendessen mit Freunden. Neben genussvoll­em Essen teilen wir mit Nachdenkli­chkeit und Lachen die Tiefen und Höhen des Lebens. Wieder anders: der begeistert­e Hinweis auf einen Roman, dessen Lektüre mir die Augen für eine ganz andere, neue Welt öffnet. Oder ganz einfach der wunderbare Duft der Rosen, die sich im Bogen über dem Gartentor wölben, in dessen Schatten der Abendbrott­isch gedeckt ist. Alle diese Alltäglich­keiten machen meinen Lebensort zum wirklich lebenswert­en Ort der

Welt.

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