Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Wenn der Kirche die Gläubigen davonlaufen
Sicher, mit Rekordzahlen hatte man gerechnet. Mit diesen historischen Höchstwerten aber kaum: Fast 360.000 Katholiken haben hierzulande im vergangenen Jahr „ihre“Kirche verlassen. Und nach all den Jahren permanenter Mitgliederverluste ist es wahrscheinlich, dass es inzwischen zunehmend engagierte Christen sind, die der Institution keinen Glauben mehr schenken.
Wie auch? Seit zwölf Jahren bemüht sich die Kirche um Aufklärung und Aufarbeitung des unfassbaren Missbrauchsskandals, ohne wirklich zu überzeugen. Bischöfe werden im Amt belassen, obwohl sie aus guten Gründen um Amtsverzicht gebeten haben. Längst überfällige Reformen werden in Rom mehr belächelt als diskutiert. Und über die Zukunft des umstrittenen Kölner Kardinals Rainer Maria Woelki legt der Vatikan seit Monaten und bis zum heutigen Tag den Mantel des untätigen Schweigens. Woelki und Köln sind nicht der Urgrund des Bedeutungsverlustes. Aber sie sind zum Synonym geworden für den umfassenden Vertrauensverlust einer Institution, die auf Vertrauen und Glaubwürdigkeit baut und angewiesen ist.
Nur den Blick auf die desaströse Lage in Köln zu lenken hieße, die tausendfache sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen kleinzureden als eine Ursache von vielen. Seelsorger sind Täter geworden und haben aus der Kirche eine Täterorganisation gemacht. Den Betroffenen dieser Verbrechen gilt alle Hilfe, aller Schutz – nicht der Institution. Die Austritte sind die Kommentare von Menschen, die in der hierarchisch aufgestellten Kirche nicht zu Wort kommen oder gar nicht gehört werden. Die Abkehr von der Institution ist ihr letztes Mittel der Selbstermächtigung, möglicherweise, um den eigenen Glauben zu bewahren. Dieser Schritt ist keine Lösung der Probleme, kittet nicht die Erosion, fördert keine Reform. Und doch finden sich immer mehr Gründe für eine solche Entscheidung.