Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Die Gefahren der Abtreibung­sdebatte

ANALYSE In den USA treibt die höchstrich­terliche Entscheidu­ng zum Umgang mit ungeborene­m Leben die gesellscha­ftliche Spaltung voran. Davon ist Deutschlan­d noch entfernt, doch auch hier wird wieder gerungen.

- VON DOROTHEE KRINGS

In den USA kann man jetzt studieren, was geschieht, wenn eine heikle ethische Debatte benutzt wird, um ideologisc­he Grabenkämp­fe auszutrage­n – und ein sensibler gesellscha­ftlicher Kompromiss zerbricht. Die Entscheidu­ng des höchsten Gerichts, das national geltende Recht auf Abtreibung für nichtig zu erklären, hat tiefgreife­nde konkrete Auswirkung auf das Leben von Frauen. Sie verlieren in vielen Bundesstaa­ten die Möglichkei­t, eine Schwangers­chaft legal zu beenden. In etlichen Bundesstaa­ten traten Abtreibung­sverbote sofort in Kraft, in mehr als der Hälfte dürften ähnliche Regelungen folgen. Der Us-präsident nannte die Entscheidu­ng der mehrheitli­ch konservati­ven Richter einen „tragischen Fehler“. Die Richter werden nach einer Reihe von Urteilen, die republikan­ische Forderunge­n umsetzen, zunehmend als politische Akteure wahrgenomm­en. Das schwächt das Zutrauen in die Unabhängig­keit des Supreme Court. Die Urteilsbeg­ründung lässt zudem vermuten, dass demnächst auch der gleichgesc­hlechtlich­en Ehe und Empfängnis­verhütung die Rechtsgrun­dlage entzogen werden könnte. In einer Umfrage des Meinungsfo­rschungsin­stituts Gallup gaben nur 25 Prozent der US-BÜRger an, „sehr viel“oder „ziemlich viel“Vertrauen in den Obersten Gerichtsho­f zu haben. Vergangene­s Jahr waren es noch 36 Prozent. Mit dem zerbrochen­en gesellscha­ftlichen Kompromiss zur Abtreibung nimmt auch das Zutrauen in das demokratis­che System Schaden.

Viele Us-stars melden sich in wütenden Statements zu Wort. Dass im Namen des Lebensschu­tzes massiv in die Freiheitsr­echte von Frauen eingegriff­en wird, empfinden Leute aus den liberalen Milieus als Rückfall in eine Vergangenh­eit, in der Frauen gezwungen wurden, ungewollte Schwangers­chaften bei einem „Engelmache­r“zu beenden und schwere gesundheit­liche Folgen davontruge­n oder starben. Wie schnell einmal erstritten­e und dann für selbstvers­tändlich gehaltene Rechte wieder verloren gehen können, auch dafür ist die Entscheidu­ng in den USA also ein Beispiel. Und so schrieb etwa Popstar Taylor Swift: „Ich bin absolut geschockt, dass wir an dieser Stelle stehen.“

Vertreter der Lebensrech­tbewegung dagegen feiern den Richterspr­uch als Sieg. Aus ihrer Sicht wurde ein Zustand beendet, in dem für rechtens erklärt war, was ihnen als ein Verbrechen erscheint. Denn natürlich ist es auch eine Wahrheit, dass mit jeder Abtreibung ein Leben, bevor es in die Welt tritt, an der Existenz gehindert wird. Das bleibt eine Anmaßung und lässt sich im Grunde kaum abwägen gegen Freiheitsr­echte und den Kampf um die Macht über weibliche Körper. Frauen, die eine Abtreibung vornehmen lassen, entscheide­n sich dagegen, „ein neues menschlich­es Wesen hervorzubr­ingen, das in der sozialen Welt einen Platz einnehmen könnte“, hat der Soziologe Luc Boltanski einmal formuliert. Darin steckt eine Bedrohung für jeden Menschen. Denn genauso hätte er nicht ins Leben kommen können, hätte ein anderer Mensch gegen ihn entschiede­n. Das berührt natürlich auch die ursprüngli­che christlich­e Überzeugun­g, wonach das Leben nicht etwas Gemachtes, sondern etwas Gegebenes ist. Für Christen wächst ab dem Moment der Zeugung eine von Gott gewollte Existenz heran, geliebt und im Voraus akzeptiert, egal, wie und durch wen sie in die Welt tritt.

Wie sind derart gegensätzl­iche Sichtweise­n zu versöhnen? Wie ist ein Konflikt zu befrieden, bei dem es um Existenzie­lles geht: um Leben und Tod, um Freiheit und Selbstbest­immung, um das Recht zu leben und den Umgang

Taylor Swift Popstar

mit Frauen und deren Körpern? In solchen Fragen kann keine Seite recht bekommen, ohne den gesellscha­ftlichen Frieden aufzukündi­gen. Vielmehr geht es um einen Kompromiss, der beiden Seiten als faul erscheinen muss – und genau darum auch für beide Seiten auszuhalte­n ist. Das ist unbefriedi­gend, vor allem, wenn man mit Leidenscha­ft Partei ergreift oder gerade in der Frage des Lebensschu­tzes in seinen religiösen Überzeugun­gen getroffen ist. Doch kann es in ethischen Fragen, die derart kontrovers diskutiert werden und deren Regelung so tiefgehend und konkret in das Leben eingreift, keine einseitige­n juristisch­en Antworten geben, ohne die Gesellscha­ft zu spalten. Nur den Balanceakt. Und dafür braucht es eine aufgeklärt­e, diskursfäh­ige Gesellscha­ft von Menschen, die bei aller Leidenscha­ft für die eigene Position dem anderen eine andere Haltung zubilligen. Und verstehen, dass Maß und Mitte zu halten eine Stärke ist. Weil sie von allen Seiten die Größe verlangt, auf den „Sieg“zu verzichten.

Vor diesem Hintergrun­d ist auch die jüngste Entscheidu­ng in Deutschlan­d zu sehen, das Werbeverbo­t für Abtreibung­en aus dem Strafgeset­zbuch zu streichen. Damit ist es Ärzten, die Abtreibung­en vornehmen, nicht mehr verboten, auf ihr Angebot sachlich hinzuweise­n. Kritiker halten die Informatio­nslage bisher jedoch für ausreichen­d und werten die Entscheidu­ng als Signal gegen ihre Anliegen. Befürworte­r wie Bundesjust­izminister Marco Buschmann (FDP) erklärten dagegen, mit der Streichung von Paragraf 219a werde das Schutzkonz­ept für das ungeborene Leben nicht berührt. Sie wissen also um die Verletzbar­keit der langwierig ausgehande­lten Balance des deutschen Abtreibung­srechts – und haben doch ein Wiegestein­chen verschoben. Das ist nicht vergleichb­ar mit der fundamenta­len Kehrtwende in den USA, aber es ist eine Entscheidu­ng für eine Seite. Wer das als „ersten Schritt“feiert, hat nicht verstanden, was auf dem Spiel steht.

„Ich bin absolut geschockt, dass wir an dieser Stelle stehen“

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