Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Die Gefahren der Abtreibungsdebatte
ANALYSE In den USA treibt die höchstrichterliche Entscheidung zum Umgang mit ungeborenem Leben die gesellschaftliche Spaltung voran. Davon ist Deutschland noch entfernt, doch auch hier wird wieder gerungen.
In den USA kann man jetzt studieren, was geschieht, wenn eine heikle ethische Debatte benutzt wird, um ideologische Grabenkämpfe auszutragen – und ein sensibler gesellschaftlicher Kompromiss zerbricht. Die Entscheidung des höchsten Gerichts, das national geltende Recht auf Abtreibung für nichtig zu erklären, hat tiefgreifende konkrete Auswirkung auf das Leben von Frauen. Sie verlieren in vielen Bundesstaaten die Möglichkeit, eine Schwangerschaft legal zu beenden. In etlichen Bundesstaaten traten Abtreibungsverbote sofort in Kraft, in mehr als der Hälfte dürften ähnliche Regelungen folgen. Der Us-präsident nannte die Entscheidung der mehrheitlich konservativen Richter einen „tragischen Fehler“. Die Richter werden nach einer Reihe von Urteilen, die republikanische Forderungen umsetzen, zunehmend als politische Akteure wahrgenommen. Das schwächt das Zutrauen in die Unabhängigkeit des Supreme Court. Die Urteilsbegründung lässt zudem vermuten, dass demnächst auch der gleichgeschlechtlichen Ehe und Empfängnisverhütung die Rechtsgrundlage entzogen werden könnte. In einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Gallup gaben nur 25 Prozent der US-BÜRger an, „sehr viel“oder „ziemlich viel“Vertrauen in den Obersten Gerichtshof zu haben. Vergangenes Jahr waren es noch 36 Prozent. Mit dem zerbrochenen gesellschaftlichen Kompromiss zur Abtreibung nimmt auch das Zutrauen in das demokratische System Schaden.
Viele Us-stars melden sich in wütenden Statements zu Wort. Dass im Namen des Lebensschutzes massiv in die Freiheitsrechte von Frauen eingegriffen wird, empfinden Leute aus den liberalen Milieus als Rückfall in eine Vergangenheit, in der Frauen gezwungen wurden, ungewollte Schwangerschaften bei einem „Engelmacher“zu beenden und schwere gesundheitliche Folgen davontrugen oder starben. Wie schnell einmal erstrittene und dann für selbstverständlich gehaltene Rechte wieder verloren gehen können, auch dafür ist die Entscheidung in den USA also ein Beispiel. Und so schrieb etwa Popstar Taylor Swift: „Ich bin absolut geschockt, dass wir an dieser Stelle stehen.“
Vertreter der Lebensrechtbewegung dagegen feiern den Richterspruch als Sieg. Aus ihrer Sicht wurde ein Zustand beendet, in dem für rechtens erklärt war, was ihnen als ein Verbrechen erscheint. Denn natürlich ist es auch eine Wahrheit, dass mit jeder Abtreibung ein Leben, bevor es in die Welt tritt, an der Existenz gehindert wird. Das bleibt eine Anmaßung und lässt sich im Grunde kaum abwägen gegen Freiheitsrechte und den Kampf um die Macht über weibliche Körper. Frauen, die eine Abtreibung vornehmen lassen, entscheiden sich dagegen, „ein neues menschliches Wesen hervorzubringen, das in der sozialen Welt einen Platz einnehmen könnte“, hat der Soziologe Luc Boltanski einmal formuliert. Darin steckt eine Bedrohung für jeden Menschen. Denn genauso hätte er nicht ins Leben kommen können, hätte ein anderer Mensch gegen ihn entschieden. Das berührt natürlich auch die ursprüngliche christliche Überzeugung, wonach das Leben nicht etwas Gemachtes, sondern etwas Gegebenes ist. Für Christen wächst ab dem Moment der Zeugung eine von Gott gewollte Existenz heran, geliebt und im Voraus akzeptiert, egal, wie und durch wen sie in die Welt tritt.
Wie sind derart gegensätzliche Sichtweisen zu versöhnen? Wie ist ein Konflikt zu befrieden, bei dem es um Existenzielles geht: um Leben und Tod, um Freiheit und Selbstbestimmung, um das Recht zu leben und den Umgang
Taylor Swift Popstar
mit Frauen und deren Körpern? In solchen Fragen kann keine Seite recht bekommen, ohne den gesellschaftlichen Frieden aufzukündigen. Vielmehr geht es um einen Kompromiss, der beiden Seiten als faul erscheinen muss – und genau darum auch für beide Seiten auszuhalten ist. Das ist unbefriedigend, vor allem, wenn man mit Leidenschaft Partei ergreift oder gerade in der Frage des Lebensschutzes in seinen religiösen Überzeugungen getroffen ist. Doch kann es in ethischen Fragen, die derart kontrovers diskutiert werden und deren Regelung so tiefgehend und konkret in das Leben eingreift, keine einseitigen juristischen Antworten geben, ohne die Gesellschaft zu spalten. Nur den Balanceakt. Und dafür braucht es eine aufgeklärte, diskursfähige Gesellschaft von Menschen, die bei aller Leidenschaft für die eigene Position dem anderen eine andere Haltung zubilligen. Und verstehen, dass Maß und Mitte zu halten eine Stärke ist. Weil sie von allen Seiten die Größe verlangt, auf den „Sieg“zu verzichten.
Vor diesem Hintergrund ist auch die jüngste Entscheidung in Deutschland zu sehen, das Werbeverbot für Abtreibungen aus dem Strafgesetzbuch zu streichen. Damit ist es Ärzten, die Abtreibungen vornehmen, nicht mehr verboten, auf ihr Angebot sachlich hinzuweisen. Kritiker halten die Informationslage bisher jedoch für ausreichend und werten die Entscheidung als Signal gegen ihre Anliegen. Befürworter wie Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) erklärten dagegen, mit der Streichung von Paragraf 219a werde das Schutzkonzept für das ungeborene Leben nicht berührt. Sie wissen also um die Verletzbarkeit der langwierig ausgehandelten Balance des deutschen Abtreibungsrechts – und haben doch ein Wiegesteinchen verschoben. Das ist nicht vergleichbar mit der fundamentalen Kehrtwende in den USA, aber es ist eine Entscheidung für eine Seite. Wer das als „ersten Schritt“feiert, hat nicht verstanden, was auf dem Spiel steht.
„Ich bin absolut geschockt, dass wir an dieser Stelle stehen“