Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Weil jedes Kind zählt
Im Missbrauchskomplex Wermelskirchen müssen die Kommissarinnen Millionen Bilder und Videos sichten. Wie schaffen sie das?
Die Fotos der kleinen Mädchen und Jungen hängen in mehreren Reihen im Büro von Manuela Fischer und ihren Kolleginnen. Die Kinder auf der linken Seite sind mit Namen gekennzeichnet. Sie heißen Karla, Jakob oder Marie. Es sind diejenigen, die schon identifiziert sind. Die Kinder auf der anderen Seite haben noch keine Namen. Es sind Babys und Kleinkinder, drei oder vier Jahre alt. Neben ihren Gesichtern stehen Fragezeichen. Ziel der Kommissarinnen ist es, auch ihnen Namen und Wohnorte zuordnen zu können, um sie vor den Männern zu schützen, die ihnen schwerste sexuelle Gewalt angetan haben.
Insgesamt 60 Ermittler arbeiten im Kölner Polizeipräsidium in der sogenannten BAO Liste. Die Initialen BAO steht für „Besondere Aufbauorganisation“, ein großes Ermittlerteam mit einer speziellen Befehlsstruktur, wie die Polizei sie sonst nur bei Geiselnahmen oder Terroranschlägen nutzt. Zehn Ermittler sind allein damit beschäftigt, die Unmengen an Bildern, Videos und Chats zu sichten und auszuwerten, die im Dezember im Haus eines 44-Jährigen in Wermelskirchen sichergestellt wurden. Der Beschuldigte hatte allein auf einer Festplatte 3,5 Millionen Bilder und 1,5 Millionen Videos, die den sexuellen Missbrauch von Kindern zeigen. Insgesamt stellten die Ermittler 30 Terabyte Daten sicher.
Manuela Fischer leitet bei der BAO Liste den Einsatzabschnitt Auswertung. Mit ihren beiden Kolleginnen teilt sie sich ein Büro, auf den Schreibtischen stehen private Fotos von Kindern und Hunden. Die 37-Jährige hat schon bei der BAO Berg im Missbrauchskomplex Bergisch Gladbach mitgearbeitet. Ihre Motivation ist es, Kinder zu befreien und Täter zu fassen. Sorgfalt und Genauigkeit haben bei ihrer Arbeit oberste Priorität. „Von manchen Kindern gibt es sehr viele Bilder, von manchen aber auch nur ein einziges Bild oder Video“, sagt sie: „Wenn ich das übersehe, dann ist es mein Fehler, dass das Kind nicht identifiziert werden kann, der Täter womöglich nicht gefasst wird.“Zwar benutzen die Ermittlerinnen forensische Auswerter-programme, die zum Beispiel Chats und Fotos visualisieren. „Die können uns aber nur beim Priorisieren helfen, es gibt noch kein Programm oder eine künstliche Intelligenz, die uns Ermittler ersetzen kann – man muss sich alles anschauen, die Gefahr ist sonst zu groß, dass etwas übersehen wird.“
Ihre Kollegin Viktoria Siebert vergleicht die Auswerter-arbeit mit einem riesigen Puzzle. Alles kann wichtig sein. „Die Wandfarbe in einem Zimmer, die Bilder im Hintergrund oder ein Kalender an der Wand, an dem man ein Datum ablesen kann“, sagt die 34-Jährige. Im aktuellen Missbrauchskomplex wurden vor allem sehr kleine Kinder teils schwer sexuell missbraucht. Das Jüngste war gerade einmal vierwochen alt, viele nicht älter als drei Jahre, manche behindert. Der tatverdächtige Wermelskirchener, der im Kern geständig ist, soll die Kinder als Babysitter kennengelernt haben, einige über Jahre in den Wohnungen der Eltern missbraucht haben. Er hat detaillierte Listen mit den Namen anderer Pädokrimineller und Missbrauchsarten geführt – wohl um nicht den Überblick über seine Sammlung zu verlieren. „Diese Listen helfen uns jetzt“, sagt Siebert.
Seit seiner Festnahme konnten die Ermittler aber auch über die Auswertung von Chats mehr als 80 weitere Tatverdächtige identifizieren. Bislang sind mehr als 30 Opfer bekannt. Viele Verfahren wurden in andere Bundesländer, aber auch nach Österreich, abgegeben. „Wenn wir Bild- und Videomaterial anschauen, sind wir sehr nah an den Kindern dran“, sagt Viktoria Siebert. Wegen dieser Nähe will die Polizeioberkommissarin auch wissen, was aus den Opfern und den Tätern geworden ist – ob ihre Auswertungen, die sie an die Ermittler weitergibt, zur Identifizierung geführt haben.
Die Auswerterinnen müssen regelmäßig Pausen machen. „Nach zwei Stunden muss man durchatmen, mal um den Block gehen“, sagt Siebert: „Das kann man nicht acht Stunden am Stück machen, wir müssen da auf uns aufpassen.“Die Bilder zu sehen ist das eine, das Schreien der Kinder zu hören das andere. Doch die Auswerterinnen müssen sich alles mit Ton anschauen. „Welche Sprache wird gesprochen? Gibt es Geräusche im Hintergrund, vielleicht eine Kirchenglocke? Nennt der Täter vielleicht sogar den Namen des Kindes?“Die Kommissarinnen wissen: „Was passiert ist, können wir nicht rückgängig machen – das ist schlimm, und was wir sehen, ist furchtbar“, sagt Siebert. „Aber umso wichtiger ist es, dass wir uns die Bilder gründlich anschauen. Denn wir können dafür sorgen, dass es nicht noch einmal passiert.“Für Siebert ist das die größte Motivation und der Grund, warum sie morgens gerne ins Büro kommt: „Wir haben ja Erfolge, weil wir Täter identifizieren und Kinder aus den Familien holen – auch wenn der Berg so riesengroß ist, dass wir ihn nicht innerhalb von ein paar Tagen abarbeiten können.“
Zeit ist ein wichtiger Faktor bei der Arbeit der Ermittler. „Wir müssen uns die Zeit nehmen, um belastbare Ergebnisse zu schaffen – auch wenn die Datenmengen unvorstellbar groß sind“, sagt der Polizeiführer Jürgen Haese, 58 Jahre alt, der die BAO Liste leitet: „Unsere Techniker haben es mal ausgerechnet, um die Zahl von 30 Terabyte zu visualisieren: Diese Datenmengen auf DVDS ergeben einen Stapel, der höher ist als der Kölner Dom.“Zum Komplex Wermelskirchen kam vor wenigen Wochen noch ein zweiter, bei dem große Mengen Daten sichergestellt wurden: Nach Hinweisen von
Eltern wurde ein 33-jähriger Mann aus Köln festgenommen, der als Betreuer in mehreren Kindertagesstätten Kinder sexuell missbraucht haben soll. Er hatte sich wie der Wermelskirchener zudem als Babysitter angeboten. Auch hier gehen die Ermittler Hinweisen auf weitere Opfer nach. Das Personal der BAO Liste wurde noch einmal aufgestockt. „Es gibt Überschneidungen, da beide Beschuldigten als Babysitter und Betreuer von Kleinstkindern ihre Masche gefunden haben – wir haben aber bislang keine Indizien dafür, dass sich die Männer kannten“, sagt Haese. Der verheiratete, kinderlose Mann aus Wermelskirchen hat sich offenbar ganz bewusst sehr junge und behinderte Kinder ausgesucht. „Man könnte vermuten, dass er seine Auswahl so getroffen hat, da diese Kinder sowieso nichts erzählen, und wenn doch, keiner ihnen Glauben schenkt“, sagt Haese.
Weil es um schwerste sexualisierte Gewalt gegen sehr kleine Kinder geht, sei es besonders wichtig, dass die Auswerter gut aufeinander aufpassten. „Sie sitzen deshalb auch ganz bewusst in Großraumbüros, damit keiner allein im dunklen Kämmerchen vor dem Rechner hockt und sich das anschauen muss“, sagt Haese. Es gebe Videos, die 30, 40 Minuten lang seien und die zeigen, dass Säuglinge während des Missbrauchs in Atemnot geraten. „Da sagen erfahrene, hart gesottene Kollegen mir: Ich kann mir exakt eines dieser Videos am Tag anschauen und dann muss ich erst mal raus.“Das sei aber genau der richtige Umgang damit. „Alle sind freiwillig hier“, sagt Haese: „Wenn jemand nicht mehr will, muss er nicht weitermachen.“
Siebert beschreibt, dass sich ihr Blick auf Mitmenschen durch ihre Arbeit verändert. „Es wäre gelogen zu sagen, dass es nicht so ist“, sagt sie: „Ich habe ein sehr intaktes soziales Umfeld, aber ich ertappe mich dabei, dass ich immer wieder genauer hinschaue.“Das kann eine harmlose Situation im Freibad sein, in der ein Vater mit seinem Kind spielt und die Kommissarin an etwas erinnert, das sie bei der Auswertung gesehen hat. Einmal im Monat können sie und ihre Kolleginnen bei einer Supervision über das sprechen, was sie möglicherweise belastet.
Was sie jeden Tag antreibt, formuliert Jürgen Haese so: „Unser oberstes Ziel ist es, möglichst viele Kinder aus Missbrauchssituationen zu retten.“Niemand in seiner Mannschaft würde es sich verzeihen, wenn er bei den Ermittlungen irgendetwas übersehen würde: „Es kann selbst auf dem allerletzten Datenträger noch einen Hinweis auf ein Kind geben, das in einer misslichen Situation ist – und jedes Kind zählt.“