Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Immer ein bisschen unheimlich

Tom Cruise ist erfolgreic­her denn je. Doch obwohl man ihn schon so lange kennt und viel über ihn zu wissen meint, bleibt der Hollywoods­tar ein Rätsel.

- VON PHILIPP HOLSTEIN

Seine schlechtes­te schauspiel­erische Leistung zeigt Tom Cruise in einer Szene ziemlich zu Beginn des Films „Cocktail“aus dem Jahr 1988. Cruise spielt den jungen Brian Flanagan, der einen Job in einer Bar in New York annimmt. Die Bar ist beliebt, es ist viel los, sehr viel sogar, und Flanagan weiß auch nicht so genau, wie das geht: Bestellung­en annehmen, Drinks mixen, ruhig bleiben. Es ist beinahe rührend zu sehen, wie Cruise die Überforder­ung seiner Figur rüberzubri­ngen versucht. Das ist vielleicht das einzige Mal in seiner Karriere, dass er auf der Leinwand laienhaft wirkt, wie ein Amateur. Er kann in dieser Szene einfach nicht aus seiner Erfahrung schöpfen. Er kennt das nicht: etwas nicht unter Kontrolle zu haben, nicht cool zu sein. Er weiß nicht, wie sich das anfühlt, etwas nicht zu können.

Tom Cruise wird 60, und er ist so erfolgreic­h wie nie zuvor. Sein Film „Top Gun: Maverick“hat es soeben geschafft, in den Club der 50 Filme aufgenomme­n zu werden, deren Einspieler­gebnis eine Milliarde Dollar übersteigt (die Top drei sind:

„Avatar“, „Avengers: Endgame“und „Titanic“). „Maverick“ist die Fortsetzun­g jener Produktion, mit der Cruise 1986 der große Durchbruch gelang: „Top Gun“. Man findet im Internet Collagen, die das Gesicht von Cruise im aktuellen Film seinem 36 Jahre jüngeren Ich gegenübers­tellen. Der Unterschie­d ist verblüffen­d. Es gibt nämlich so gut wie keinen.

Das ist denn auch der eine Grund, warum Tom Cruise auf manche ein bisschen unheimlich wirken mag: diese Perfektion. Die scheinbare Alterslosi­gkeit. Die Unverbrüch­lichkeit. Die Unnahbarke­it. Sein Gesicht ist eine Projektion­sfläche, der ganze Mann mutet wie eine Leinwand an. Draufschau­en geht, dahinter blickt man kaum. Man hört immer wieder, dass er seine Stunts, auch die gefährlich­en in der enorm populären „Mission Impossible“-reihe, selbst macht. Am Set soll er einer der nettesten Kollegen sein: Er begrüßt jeden Kabelträge­r mit Handschlag, und Kolleginne­n, die vor Jahren einmal mit ihm gedreht haben, berichten von nicht abbrechend­en Kuchenlief­erungen zu Weihnachte­n. Tom Cruise ist zu perfekt, um wahr zu sein.

Der andere Grund für ambivalent­e Gefühle ihm gegenüber: seine Art des Engagement­s für Scientolog­y. 2008 tauchte ein Video auf, in dem Cruise bei einer Scientolog­en-versammlun­g fragt: „Sollen wir die Welt säubern?“Die Menge brüllt begeistert: „Ja.“Der Historiker Guido Knopp zog damals Parallelen zur Sportpalas­t-rede von Joseph Goebbels, in der der Propaganda-chef der Nazis 1943 die Frage gestellt hatte: „Wollt ihr den totalen Krieg?“Die Reaktion des Publikums lautete ebenfalls: „Ja.“

Obwohl Cruise so vieles öffentlich ausgetrage­n hat, weiß man eigentlich nichts über ihn. Er ist ein Rätsel, ein Faszinosum. Die Ehe mit Nicole Kidman, die bald nach dem expliziten gemeinsame­n Film „Eyes Wide Shut“endete. Die Liebesbeke­nntnisse für seine spätere Frau Katie Holmes, die er hüpfend wie ein Flummi auf dem Sofa von Oprah Winfrey vortrug, worauf das Magazin „Vanity Fair“fragte, ob er seinen Verstand verloren habe. Der angebliche Heiratsant­rag auf dem Eiffelturm. Wer ist eigentlich Tom Cruise?

Sicher ist nur dieses: Er ist einer der umsatzstär­ksten Schauspiel­er Hollywoods. Cruise wurde drei Mal für den Oscar nominiert, und zwar für „Geboren am 4. Juli“, „Jerry Maguire – Spiel des Lebens“und für „Magnolia“. Er wird von einem Ehrgeiz angetriebe­n, den man von bestimmten Sportstars kennt, von Ronaldo vielleicht. Sein Erfolg hat Dauer. Bereits zwischen 1992 und 1996 brachte er fünf Filme mit mehr als 100 Millionen Dollar Einspieler­gebnis ins Kino. Seine Reihe „Mission Impossible“wird mit jeder neuen Lieferung erfolgreic­her. Die Nummer sechs, „Fallout“, spielte 790 Millionen Dollar ein. Er ist einer der besten Actiondars­teller, er ist so sehnig wie charmant und pflegt einen lakonische­n und mitunter augenzwink­ernden schauspiel­erischen Minimalism­us. Cruise ist kein Muskelpake­t, vielmehr ein zeitloser, eleganter und kraftvolle­r Tänzer, und wenn man diesen Teil seiner Karriere bebildern sollte, würde man die Szene aus „Mission Impossible: Phantom Protokoll“aussuchen, in der er am Burj Khalifa in Dubai hockklette­rt. Er trägt Handschuhe, mit denen man sich auf Glas bewegen kann. Aber dann funktionie­rt einer von ihnen nicht mehr, und da wird es erst richtig gut.

Immer wieder gelingen ihm auf diese Weise magische Momente auf der Leinwand. Er hat einmal mit dieser selbstbewu­ssten Showbiz-bescheiden­heit gesagt, dass er nicht bloß in Action gut sein, sondern in vielen Genres mithalten wolle. Das ist ihm gelungen. Man sehe sich noch einmal „Rain Man“an oder „Collateral“oder seinen vielleicht schönsten Film „The Outsiders“. Oder einfach den dritten Teil von „Mission Impossible“, wo er in der Rolle des Agenten Ethan Hunt von einem Hochhaus stürzt. Gesichert durch ein Seil schwebt er zunächst, dann ist das Seil zu Ende, und er landet auf einem Schrägdach und rutscht auf dem Rücken auf den Abgrund zu. Trotzdem findet er Gelegenhei­t, beim Herabgleit­en um sich zu schießen, bis er seine Waffe verliert. Kurz vor knapp kann er sich auf den Bauch drehen und an der Dachrinne des Gebäudes stoppen. Wenige Millimeter mehr, und er wäre gestorben. Die Szene endet mit einem einzigen Wort aus dem Munde von Tom Cruise.

Es lautet: „Okay.“

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