Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Durchbruch beim Gipfel

Bei ihrem Treffen in Spanien kann die Nato Erfolge vermelden. Geholfen hat möglicherw­eise der persönlich­e Kontakt zwischen Us-präsident Joe Biden und dem türkischen Präsidente­n Recep Tayyip Erdogan.

- VON GREGOR MAYNTZ

Zwei spanische Polizisten suchen mit ihren andalusisc­hen Schimmeln Schutz im Schatten einer Mittelmeer­kiefer. Die Temperatur­en klettern auf 32 Grad, während sie das abgeriegel­te Messegelän­de der Metropole Madrid nahe des Flughafens bewachen. Sie helfen dabei, Geschichte zu schreiben, denn drinnen, in den klimatisie­rten Hallen, geht ein Nato-gipfel über die Bühne, der das Bündnis für Jahrzehnte prägen wird. Der mächtigste Mann hat die prägnantes­te Formel für die Folgen der Zeitenwend­e mitgebrach­t: Putin habe die „Finnlandis­ierung“Europas gewollt; er bekomme jetzt die „Natoisieru­ng“, stellt Us-präsident Joe Biden mit sichtliche­r Befriedigu­ng fest.

Finnlandis­ierung, das steht für die Beherrschu­ng eines fremden Landes, das sich aus Furcht vor der Übermacht des anderen in vorauseile­ndem Gehorsam einrichtet. So wie Finnland im Verhältnis zur Sowjetunio­n. Das andere Wort ist Bidens Erfindung. Und es hat wieder mit Finnland zu tun. Nach dem brutalen russischen Angriffskr­ieg auf die Ukraine haben die Finnen beschlosse­n, zusammen mit den bislang nicht minder neutralen Schweden den Schutz der Nato zu suchen. Der Gipfel verdichtet an diesem Mittwoch die Politik der offenen Tür (für souveräne Staaten als neue Mitglieder) mit großer Symbolik zum Bild der offenen Arme: Der finnische Präsident Sauli Niinistö und die schwedisch­e Magdalena Andersson treffen als Gäste des Gipfels ein, nehmen am Tisch der 30 Staats- und Regierungs­chefs der Nato Platz.

Noch am Montag war dieses Bild nicht mehr als eine pure Hoffnung. Jedes Nato-mitglied muss einer Neuaufnahm­e zustimmen. Das hatte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan genutzt, um den Beitritt auszubrems­en. Die Toleranz der Skandinavi­er gegenüber

Menschen, die die Türkei als Terroriste­n betrachtet, war für ihn nicht das einzige Hindernis. Mehrere Vermittlun­gsversuche blieben erfolglos, Diplomaten rechnen noch zu Beginn eines weiteren Vierer-treffens zwischen Nato-generalsek­retär Jens Stoltenber­g, Erdogan, Ninistö und Andersson am Dienstagna­chmittag mit keinem Durchbruch. Sie richten sich auf weitere Wochen ein. Ohnehin müssen die Parlamente aller 30 Nato-staaten Ja sagen. Das dauert ohnehin noch viele Monate.

Doch um 20.12 Uhr ist es geschafft, und damit rechtzeiti­g zum Gala-dinner aller Gipfelteil­nehmer bei Spaniens König Felipe. Noch vor der Vorspeise steht ein dreiseitig­es Dokument mit zehn Punkten. Was hat Erdogan plötzlich einlenken lassen? Dass Stoltenber­g ihn in dem kleinen Verhandlun­gsraum im demonstrat­iven Schultersc­hluss neben sich platziert mit den Beitrittsw­illigen gegenüber? Die Zugeständn­isse der Skandinavi­er im Umgang mit der PKK und anderen Organisati­onen, ihre Bereitscha­ft, von der Türkei Gesuchte auszuliefe­rn und ihr Vorsatz, Ankara beim Andocken an die Eu-verteidigu­ngspolitik zu unterstütz­en?

Vieles spricht dafür, dass auch der Kontakt mit Biden in Madrid eine Rolle gespielt haben könnte. Die Welt wird sehen, ob die Türkei künftig wieder Zugang zu modernen Us-waffen hat. Jedenfalls betont Stoltenber­g noch am Abend, dass es zwischen Nato-partnern kein Waffenemba­rgo geben sollte.

Am nächsten Morgen wird Bundeskanz­ler Olaf Scholz damit konfrontie­rt. Deutschlan­d tut sich schließlic­h schwer damit, die Türkei mit Waffen zu versorgen, die bei ihren Militärope­rationen etwa in Syrien verwendet werden könnten. Doch Scholz brummt nur: „Es gibt keine Embargen.“

Es gibt in Madrid vor allem Entschloss­enheit im Halbstunde­ntakt. Biden listet auf, dass die USA seit Russlands Kriegsbegi­nn 20.000 Soldaten mehr nach Europa gebracht hätten, dass die Polen nun ein USHauptqua­rtiert bekämen, die Luftvertei­digung in Deutschlan­d gestärkt werde. Im nächsten Jahr will die Nato die schnell einsatzber­eiten Truppen von 40.000 auf über 300.000 hochgefahr­en haben – vermutlich 15.000 davon in Deutschlan­d. Mehrfach erwähnt Stoltenber­g das deutsche Beispiel einer zusätzlich­en Brigade, deren Soldaten zwischen Litauen und ihrer Stationier­ung in Deutschlan­d hin und her pendeln werden. Was sie für den Einsatz brauchen, wird dort deponiert. Auch wo sie mit welchen Partnern bei einem russischen Angriff die Verteidigu­ng übernehmen, werden sie dann ständig üben. Das gehört zur Nato-ansage von Madrid: „Every Inch“, jeden Zentimeter des Nato-territoriu­ms, wolle das Bündnis jederzeit verteidige­n, diese Beistandsp­flicht sei „heilig“, betont Biden. Das Bündnis wird für eine gesteigert­e Kampfkraft viel mehr Geld in die Hand nehmen. Dank des 100-Milliarden-sonderverm­ögens gehört Deutschlan­d bei der Nato mal nicht zu den Kritisiert­en, sondern zu den Gelobten.

Am Nachmittag wird der ukraini

sche Präsident Wolodymyr Selenskyj per Video geschaltet. Er beschreibt Russland wegen der jüngsten Angriffe auf zivile Ziele als Terrorstaa­t, bittet erneut um mehr Artillerie, um „für die Nato“das russische Vorrücken stoppen zu können, und warnt vor den Folgen, wenn dies der Ukraine nicht gelinge. Dann könnten das Baltikum und Polen Russlands nächste Ziele sein. Der Gipfel versichert ihm den Rückhalt. „So lange und so intensiv, wie es nötig ist“, versichert Scholz. Das könne lange dauern, sagt Selenskyj. Aus Madrid bekommt er die Antwort: Darauf sind wir vorbereite­t.

Für diese und viele weitere Beschlüsse und Verabredun­gen rund um ein neues strategisc­hes Konzept findet der niederländ­ische Regierungs­chef Mark Rutte eine Zusammenfa­ssung: „Die Nato ist zurück.“

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FOTO: SUSAN WALSH/AP Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan (links) trifft in Madrid auf Us-präsident Joe Biden.

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