Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Was nach der Sommerwell­e kommt

ANALYSE Eine neue Studie hält ein weiteres Auf und Ab bei Corona und eine Überlastun­g des Gesundheit­ssystems im Winter für gut möglich. Es kann aber auch anders kommen – wenn die Politik an den richtigen Stellen ansetzt.

- VON MARTIN KESSLER

Die Deutschen kümmern sich derzeit wenig um die Corona-pandemie. Die Infektions­zahlen steigen zwar rasant, zuletzt erreichte die Inzidenz der wöchentlic­hen Infektione­n pro 100.000 Einwohner wieder Werte von knapp 700. Aber selbst wenn jetzt mehr Patientinn­en und Patienten in die Stationen der Kliniken eingeliefe­rt werden, wird die Sommerwell­e „das Gesundheit­ssystem voraussich­tlich nicht überlasten“, wie der neueste Modus-covid-bericht des Teams um den Berliner Mobilitäts- und Epidemie-forscher Kai Nagel zeigt, der unserer Redaktion vorliegt.

Das liegt daran, dass überall fühlbar Menschen sich infizieren und Symptome zeigen, aber die Verläufe bei den Varianten Omikron BA.4 oder BA.5 eher mild sind. Selbst bei einer hohen Dunkelziff­er drohen keine überfüllte­n Kliniken. Es müssen auch keine Operatione­n verschoben werden. Die Wissenscha­ftler um den Informatik-professor Nagel, der an der Technische­n

Universitä­t in Berlin lehrt, haben für die Region Köln ausgerechn­et, dass in der Sommerwell­e im Maximum etwa zwei Drittel der

Fallzahlen vom vergangene­n März erreicht werden.

Selbst der Wegfall fast aller Schutzmaßn­ahmen wird daran nichts ändern.

Das macht die Corona

Pandemie aber nicht völlig harmlos. „Die jetzt vorherrsch­ende Omikron-variante

BA.5 ist nicht unproblema­tisch“, findet der Chefvirolo­ge des Essener Klinikums,

Ulf Dittmer. Denn es gebe weiterhin Menschen, die so schwer erkranken, dass sie in eine Klinik, manchmal sogar auf die Intensivst­ation eingeliefe­rt werden müssten. „Wir sehen bei uns die steigenden Fallzahlen mit mehr Patienten auf der Normalstat­ion. Außerdem haben wir viele Personalau­sfälle“, so der Mediziner.

Immerhin scheint die Corona-sommerwell­e ein gewisses Plateau erreicht zu haben. „Die Zahlen werden stagnieren, zum Teil wieder sinken“, ist der Saarbrücke­r Pharmazie-professor Thorsten Lehr überzeugt, der das Bundeskanz­leramt in Corona-fragen berät. Und selbst wenn die Situation wegen des Wegfalls kostenlose­r Schnelltes­ts ab Juli unkontroll­ierbar werde, so dürften die Fälle mit Symptomen und Krankheits­verlauf kein Problem für die Krankenhäu­ser darstellen, ist der Corona-experte der Universitä­t des Saarlands überzeugt.

Das große Fragezeich­en betrifft den Herbst. „Keiner kann genau sagen, ob das Coronaviru­s sich so variantenr­eich wie in der Vergangenh­eit zeigt“, meint Lehr. Das Berliner Team um den Epidemiolo­gen Nagel hat trotzdem einmal untersucht, ob eine Variante mit der Ansteckung­skraft von Omikron, aber mit deutlich schwereren Verläufen das Gesundheit­ssystem vor Probleme stellen könnte. Sollte diese Mutation in gleicher Weise der Impfung ausweichen können wie Omikron, so sind nach dieser Simulation um 50 Prozent höhere Fallzahlen als im Frühjahr zu erwarten, als Inzidenzen von fast 2000 erreicht wurden. Die Forscher kommen zu dem Schluss, dass bei diesen ungünstige­n Eigenschaf­ten der Variante selbst eine neue Impfkampag­ne allein eine Überlastun­g der Kliniken nicht verhindern könnte. Es müssten dann der gesetzlich­e Zwang zu einem Mund-nasen-schutz in geschlosse­nen Räumen und die Pflicht zum Homeoffice wieder eingeführt werden. Auch eine Begrenzung der Personenza­hl in Geschäften und bei Veranstalt­ungen sowie die Reduzierun­g der Freizeitak­tivitäten sollten wieder diskutiert werden. Ein Limit für Läden und Konzerte bringt laut Nagel ein Minus von 45 Prozent bei den Ansteckung­en, Einschränk­ungen im Freizeitbe­reich machen einen Rückgang von rund 30 Prozent möglich.

Auch der Saarbrücke­r Corona-experte Lehr sieht erhebliche Gefahren für Herbst und Winter. „Wir gehen mit hohen Infektions­zahlen in die kalte Jahreszeit. Dann können die Werte rasch explodiere­n.“Wegen der faktisch kaum vorhandene­n Impfungen im Sommer würde auch eine Immunitäts­lücke entstehen. „Die Impfungen liegen dann schon fast ein Jahr zurück. Der Schutz nimmt deutlich ab“, vermutet der Wissenscha­ftler. Hinzu kämen neue Einträge durch die Reiserückk­ehrer, die auch gefährlich­e Varianten aus entfernten Gebieten mitbringen könnten. „Die Lage ist extrem unsicher“, fürchtet der Saarbrücke­r Kanzlerber­ater.

Etwas entspannte­r äußert sich der Essener Virologe Dittmer. Für ihn ist es eher unwahrsche­inlich, dass im Herbst oder Winter eine gefährlich­e Variante entsteht, die zu wesentlich schwereren Verläufen führt als bisher. Die Sommerwell­e habe zudem die Immunität der Bevölkerun­g verbessert. „Ich sehe auch nicht, dass wir für unser Gesundheit­swesen eine so problemati­sche Situation bekommen wie im vergangene­n Winter oder das Jahr zuvor“, meint der Chef des Instituts für Virologie an der Uniklinik.

Als Fazit bleibt, dass von der Sommerwell­e wenig Gefahr ausgehen dürfte. Im Herbst werden die Karten neu gemischt. Aber hier haben es die Bundesregi­erung und die sie stützenden Parteien der AmpelKoali­tion in der Hand, die Weichen richtig zu stellen.

„Wir sehen bei uns die steigenden Fallzahlen mit mehr Patienten auf der Normalstat­ion“

Ulf Dittmer Chefvirolo­ge Essener Klinikum

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