Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Was nach der Sommerwelle kommt
ANALYSE Eine neue Studie hält ein weiteres Auf und Ab bei Corona und eine Überlastung des Gesundheitssystems im Winter für gut möglich. Es kann aber auch anders kommen – wenn die Politik an den richtigen Stellen ansetzt.
Die Deutschen kümmern sich derzeit wenig um die Corona-pandemie. Die Infektionszahlen steigen zwar rasant, zuletzt erreichte die Inzidenz der wöchentlichen Infektionen pro 100.000 Einwohner wieder Werte von knapp 700. Aber selbst wenn jetzt mehr Patientinnen und Patienten in die Stationen der Kliniken eingeliefert werden, wird die Sommerwelle „das Gesundheitssystem voraussichtlich nicht überlasten“, wie der neueste Modus-covid-bericht des Teams um den Berliner Mobilitäts- und Epidemie-forscher Kai Nagel zeigt, der unserer Redaktion vorliegt.
Das liegt daran, dass überall fühlbar Menschen sich infizieren und Symptome zeigen, aber die Verläufe bei den Varianten Omikron BA.4 oder BA.5 eher mild sind. Selbst bei einer hohen Dunkelziffer drohen keine überfüllten Kliniken. Es müssen auch keine Operationen verschoben werden. Die Wissenschaftler um den Informatik-professor Nagel, der an der Technischen
Universität in Berlin lehrt, haben für die Region Köln ausgerechnet, dass in der Sommerwelle im Maximum etwa zwei Drittel der
Fallzahlen vom vergangenen März erreicht werden.
Selbst der Wegfall fast aller Schutzmaßnahmen wird daran nichts ändern.
Das macht die Corona
Pandemie aber nicht völlig harmlos. „Die jetzt vorherrschende Omikron-variante
BA.5 ist nicht unproblematisch“, findet der Chefvirologe des Essener Klinikums,
Ulf Dittmer. Denn es gebe weiterhin Menschen, die so schwer erkranken, dass sie in eine Klinik, manchmal sogar auf die Intensivstation eingeliefert werden müssten. „Wir sehen bei uns die steigenden Fallzahlen mit mehr Patienten auf der Normalstation. Außerdem haben wir viele Personalausfälle“, so der Mediziner.
Immerhin scheint die Corona-sommerwelle ein gewisses Plateau erreicht zu haben. „Die Zahlen werden stagnieren, zum Teil wieder sinken“, ist der Saarbrücker Pharmazie-professor Thorsten Lehr überzeugt, der das Bundeskanzleramt in Corona-fragen berät. Und selbst wenn die Situation wegen des Wegfalls kostenloser Schnelltests ab Juli unkontrollierbar werde, so dürften die Fälle mit Symptomen und Krankheitsverlauf kein Problem für die Krankenhäuser darstellen, ist der Corona-experte der Universität des Saarlands überzeugt.
Das große Fragezeichen betrifft den Herbst. „Keiner kann genau sagen, ob das Coronavirus sich so variantenreich wie in der Vergangenheit zeigt“, meint Lehr. Das Berliner Team um den Epidemiologen Nagel hat trotzdem einmal untersucht, ob eine Variante mit der Ansteckungskraft von Omikron, aber mit deutlich schwereren Verläufen das Gesundheitssystem vor Probleme stellen könnte. Sollte diese Mutation in gleicher Weise der Impfung ausweichen können wie Omikron, so sind nach dieser Simulation um 50 Prozent höhere Fallzahlen als im Frühjahr zu erwarten, als Inzidenzen von fast 2000 erreicht wurden. Die Forscher kommen zu dem Schluss, dass bei diesen ungünstigen Eigenschaften der Variante selbst eine neue Impfkampagne allein eine Überlastung der Kliniken nicht verhindern könnte. Es müssten dann der gesetzliche Zwang zu einem Mund-nasen-schutz in geschlossenen Räumen und die Pflicht zum Homeoffice wieder eingeführt werden. Auch eine Begrenzung der Personenzahl in Geschäften und bei Veranstaltungen sowie die Reduzierung der Freizeitaktivitäten sollten wieder diskutiert werden. Ein Limit für Läden und Konzerte bringt laut Nagel ein Minus von 45 Prozent bei den Ansteckungen, Einschränkungen im Freizeitbereich machen einen Rückgang von rund 30 Prozent möglich.
Auch der Saarbrücker Corona-experte Lehr sieht erhebliche Gefahren für Herbst und Winter. „Wir gehen mit hohen Infektionszahlen in die kalte Jahreszeit. Dann können die Werte rasch explodieren.“Wegen der faktisch kaum vorhandenen Impfungen im Sommer würde auch eine Immunitätslücke entstehen. „Die Impfungen liegen dann schon fast ein Jahr zurück. Der Schutz nimmt deutlich ab“, vermutet der Wissenschaftler. Hinzu kämen neue Einträge durch die Reiserückkehrer, die auch gefährliche Varianten aus entfernten Gebieten mitbringen könnten. „Die Lage ist extrem unsicher“, fürchtet der Saarbrücker Kanzlerberater.
Etwas entspannter äußert sich der Essener Virologe Dittmer. Für ihn ist es eher unwahrscheinlich, dass im Herbst oder Winter eine gefährliche Variante entsteht, die zu wesentlich schwereren Verläufen führt als bisher. Die Sommerwelle habe zudem die Immunität der Bevölkerung verbessert. „Ich sehe auch nicht, dass wir für unser Gesundheitswesen eine so problematische Situation bekommen wie im vergangenen Winter oder das Jahr zuvor“, meint der Chef des Instituts für Virologie an der Uniklinik.
Als Fazit bleibt, dass von der Sommerwelle wenig Gefahr ausgehen dürfte. Im Herbst werden die Karten neu gemischt. Aber hier haben es die Bundesregierung und die sie stützenden Parteien der AmpelKoalition in der Hand, die Weichen richtig zu stellen.
„Wir sehen bei uns die steigenden Fallzahlen mit mehr Patienten auf der Normalstation“
Ulf Dittmer Chefvirologe Essener Klinikum