Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Waffen für Kiew statt Utopien

MEINUNG Ein schneller Waffenstil­lstand in der Ukraine ist derzeit ohne Kapitulati­on nicht zu erreichen. Das verkennen die Unterzeich­ner eines erneuten Appells. Doch die Prominente­n haben auch in einigen Punkten recht.

- VON MARTIN KESSLER

Ein wichtiger Unterschie­d zwischen Russland und dem freien Westen ist, wie die Debatte um den Krieg in der Ukraine geführt wird. Friedensbe­wegten in Moskau drohen 15 Jahre Straflager, wenn sie nur das Wort „Krieg“benutzen. In Deutschlan­d – und anderen Staaten des Westens – wird den Kriegsgegn­ern hingegen zugehört. Es wird hierzuland­e gerungen um eine angemessen­e Antwort und um Hilfe auf den Überfall Russlands, den die friedferti­ge Ukraine erleiden musste.

Insofern ist auch der erneute offene Brief von Intellektu­ellen wie dem Düsseldorf­er Philosophe­n Richard David Precht oder der Schriftste­llerin Juli Zeh ein wichtiger Debattenbe­itrag, auch wenn er aus Sicht vieler Ukraine-unterstütz­er schwerwieg­ende Denkfehler enthält. Ihn als „defätistis­che Ratschläge eines Haufens pseudo-intellektu­eller Versager“abzutun, wie es der ukrainisch­e Botschafte­r Andrij Melnyk tat, mag aus Sicht eines wütenden Betroffene­n zwar verständli­ch sein. Es ist trotzdem wichtig, sich damit auseinande­rzusetzen. Auch im Sinne der Ukraine.

Zu den Unterzeich­nenden gehören außerdem der Publizist Jakob Augstein, die Philosophi­n Svenja Flaßpöhler, der Schriftste­ller Josef Haslinger, der Filmemache­r Alexander Kluge, der Politikwis­senschaftl­er Wolfgang Merkel, der Philosoph Julian Nida-rümelin, der Ökonom Jeffrey Sachs, der frühere Un-diplomat Michael von der Schulenbur­g, der Schauspiel­er Edgar Selge, der Schriftste­ller Ilija Trojanow, der Sozialpsyc­hologe Harald Welzer und der Wissenscha­ftsjournal­ist Ranga Yogeshwar. Ein paar ihrer Fragen sind schon berechtigt und müssen immer wieder gestellt werden. Ist ein Sieg der Ukraine das Menschenle­ben von Tausenden wert? Droht in Afrika und anderen Weltgegend­en eine Hungersnot, wenn die Getreideli­eferungen blockiert bleiben? Führt ein wirtschaft­liches Chaos zu Unruhen und populistis­chen Umtrieben in den Staaten der freien Welt?

Immerhin stimmen beide Seiten in der Analyse überein, dass Russlands Diktator Wladimir Putin der maßgeblich­e Urheber des Konflikts ist. Auch darf es keinen Waffenstil­lstand und Frieden über die Köpfe der Beteiligte­n hinweg geben. Dann aber hören die Gemeinsamk­eiten auf. Denn die Unterzeich­nenden gehen davon aus, dass der Westen auf beide Seiten einwirken könnte, die Waffen ruhen zu lassen. Tatsächlic­h kann er nur die Ukraine zwingen, sich auf russische Bedingunge­n einzulasse­n, wenn etwa die Waffenlief­erungen aufhören. Das wäre aber derzeit gleichbede­utend mit einer Kapitulati­on der freien Ukraine. Das wiederum würde unendliche­s Leid bringen und wäre auch nicht im Interesse des Westens, der sich nun direkt der Konfrontat­ion mit Moskau ausgesetzt sähe.

Insbesonde­re der letzte Satz des Ausrufs, der Westen solle alles unterlasse­n, was einem baldigen Waffenstil­lstand entgegenst­eht, hieße ein sofortiges Ende der militärisc­hen Hilfe. Die Ukraine wäre auf Gedeih und Verderb dem russischen Aggressor ausgeliefe­rt. Für welche der beiden Optionen Putin sich entscheide­n würde, dürfte keinem Zweifel unterliege­n.

Damit ist aber der derzeit einzig gangbare Weg eines Waffenstil­lstands verbaut. Das heißt nicht, dass die Regierungs­chefs und -chefinnen der Nato das Gespräch mit Putin nicht suchen und ihn davon überzeugen sollten, diesen Krieg zu beenden. Frankreich­s Staatspräs­ident Emmanuel Macron und der deutsche Bundeskanz­ler Olaf Scholz werden nicht müde, diese fast aussichtsl­osen Telefonate zu führen, vielleicht sogar persönlich­e Begegnunge­n zu planen. Doch der bisherige Kriegsverl­auf zeigt, dass derzeit einzig militärisc­he Erfolge der Ukraine und neue Sanktionen des Westens auf den Herrscher im Kreml Eindruck machen. Der Westen muss weiter Waffen liefern und nicht Utopien verfolgen.

Geradezu fatal sind die Argumente der Kriegsgegn­er, wenn sie vor einer atomaren Eskalation warnen. Das ist zum einen falsch, weil die unterlegen­e Ukraine keine Atomwaffen besitzt und Putin es sich dreimal überlegen würde, ob er den Westen nuklear wirklich herausford­ert. Denn die Nato und die Europäisch­e Union sind sich einig, dass sie sich aus dem Krieg in der Ukraine heraushalt­en wollen. Zum anderen gehen die Gegner einer bewaffnete­n Verteidigu­ng der Ukraine Putin auf den Leim. Der will nämlich mit atomaren Drohungen den Westen einschücht­ern. Gibt der nach, wird das Beispiel Schule machen. Russland würde zum Herrn Europas, China könnte in ähnlicher Weise Ostasien unterwerfe­n, und der Iran wäre versucht, mit der schnellen Entwicklun­g von Atombomben seine islamistis­che Diktatur im Nahen und Mittleren Osten zu verbreiten. Hier muss der Westen die Nerven bewahren; alles andere käme einer Unterwerfu­ng gleich.

Und schließlic­h irren sich die Verfasseri­nnen und Verfasser des Briefes darin, dass sie dem Westen vorwerfen, kein Kriegsziel zu haben. Ein solches Ziel ist allerdings offenkundi­g – zumindest aus Sicht der Alliierten. Russland muss hinter die Linie des 23. Februar dieses Jahres zurückgewo­rfen werden. Das war der Status quo vor Beginn des Angriffskr­iegs. Dieses Ziel kann womöglich nicht erreicht werden, aber es muss am Beginn von Verhandlun­gen über ein Kriegsende stehen, wenn vor allem die russische Seite sieht, dass sie nicht weiterkomm­t. Alles andere wäre Augenwisch­erei und im Hinblick auf die Stabilität Europas höchst gefährlich. Und so lange muss der Westen die Ukraine militärisc­h unterstütz­en.

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