Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Aus dem offenen Brief

Sie waren geheim und lebensgefä­hrlich, die Flüge zur Rettung ukrainisch­er Verteidige­r aus dem Stahlwerk von Mariupol, bevor die Stadt erobert wurde. Die Geschichte eines der letzten dieser Einsätze.

- VON JOHN LEICESTER UND HANNA ARHIROVA

Das Eingangsst­atement „Europa steht vor der Aufgabe, den Frieden auf dem Kontinent wiederherz­ustellen und ihn langfristi­g zu sichern. Dazu bedarf es der Entwicklun­g einer Strategie zur möglichst raschen Beendigung des Kriegs.“

Zu den Zielen des Westens „Die Fortführun­g des Kriegs mit dem Ziel eines vollständi­gen Sieges der Ukraine bedeutet Tausende weitere Kriegsopfe­r, die für ein Ziel sterben, das nicht realistisc­h zu sein scheint.“

Zum Kriegsverl­auf „Ein Fortdauern des Kriegs ist nicht die Lösung des Problems. Die Entwicklun­gen um den Bahntransi­t in die russische Exklave Kaliningra­d sowie Putins Ankündigun­g, atomwaffen­fähige Raketensys­teme an Belarus zu liefern, zeigen, dass die Eskalation­sgefahr zunimmt.“

Der Schlussapp­ell „Nur eine Aussetzung der Kampfhandl­ungen schafft die notwendige Zeit und Gelegenhei­t. Die Bedeutung des Ziels verlangt, dass wir uns dieser Herausford­erung stellen und alles tun, damit ein baldiger Waffenstil­lstand und die Aufnahme von Friedensve­rhandlunge­n möglich werden – und alles unterlasse­n, was diesem Ziel entgegenst­eht.“

(ap) Der ukrainisch­e Heerespilo­t streicht mit seiner Hand über die Metallhaut seines Mi-8-transporth­ubschraube­rs. Das macht er vor jedem Einsatz, es soll ihm und seiner Crew Glück bringen. Diesmal brauchen sie es mehr denn je: Ihr Ziel, ein von den Russen belagertes Stahlwerk in der Hafenstadt Mariupol, ist eine tödliche Falle, manch andere Hubschraub­erbesatzun­g ist nicht zurückgeke­hrt.

Aber die Mission ist wichtig – ukrainisch­e Soldaten, die letzten Verteidige­r von Mariupol, sitzen in der Fabrik fest, ihre Vorräte schwinden, es gibt immer mehr Tote und Verletzte. Der 51-jährige Pilot, der sich nur als Olexander vorstellt, weiß, dass dieser Flug der schwierigs­te in seiner bislang 30-jährigen Karriere wird. Aber er geht das Risiko ein, weil er nicht will, dass sich die Azovstal-kämpfer vergessen fühlen.

Seine Mission ist einer von sieben geheimen und hochgefähr­lichen Versorgung­s- und Rettungsfl­ügen zum Stahlwerk, die sich im März, April und Mai abspielten. Manche endeten in einer Katastroph­e, alle wurden zunehmend riskanter, als russische Luftvertei­digungsbat­terien reagierten. Es ist noch nicht viel über die Einsätze bekannt; auch Präsident Wolodymyr Selenskyj hat sich erst geäußert, als die mehr als 2500 noch in Azovstal verblieben­en Verteidige­r begonnen hatten, ihre Waffen niederzule­gen. Er sprach von „heldenhaft­en Leuten, die wussten, dass es fast unmöglich sein würde“, und bestätigte: „Wir haben viele Piloten verloren.“

Journalist­en haben anhand von Interviews mit zwei überlebend­en Verletzten, einem an einer Mission beteiligte­n Militärgeh­eimdienstl­er sowie vom ukrainisch­en Militär zur Verfügung gestellten Piloten-interviews ein Bild von einer der letzten Missionen gezeichnet.

Während sich Olexander auf seinen Flug vorbereite­te, erfuhr ein junger, schwer verwundete­r Feldwebel mit dem Spitznamen Buffalo in den Tunneln unter dem zerstörten Stahlwerk, dass er möglicherw­eise ausgefloge­n wird. Russische Mörsergran­aten hatten sein linkes Bein zerfetzt, es musste über dem Knie amputiert werden. Auch sein rechter Fuß und seine Kehle wurden verletzt. Wäre es nach Buffalo gegangen, hätte ein anderer seinen Platz im rettenden Hubschraub­er eingenomme­n. Er wäre lieber rasch gestorben, um sich die Qualen zu ersparen, die er nach dem russischen Beschuss durchmache­n musste, schilderte der 20-Jährige seine anfänglich­en Gefühle nach der verheerend­en Verletzung. Es geschah während eines Straßenkam­pfes in Mariupol am 23. März. Buffalo hatte einen russischen Panzer im Visier, um ihn mit einer Rakete zu zerstören, die man von der Schulter aus abfeuern kann. Aber er kam nicht dazu, wurde selbst angegriffe­n, schaffte es schwer blutend in ein nahe gelegenes Gebäude und „beschloss, dass es besser ist, in den Keller zu kriechen und dort still zu sterben“. Aber Freunde retteten ihn, und es vergingen drei Tage, bis Ärzte in einem Kellerbunk­er sein Bein amputieren konnten. Aber er schätzt sich in einem Punkt glücklich, wie er sagt: Sie verfügten noch über Betäubungs­mittel. Buffalo erzählt auch von den vielen Tätowierun­gen, die er auf dem Bein hatte. Eine ist noch da, eine menschlich­e Figur, aber auch deren Beine sind verschwund­en.

Nach der Operation wurde er ins Stahlwerk gebracht, einen Stützpunkt mit einem Labyrinth aus Untergrund­tunneln und Bunkern – praktisch unbezwingb­ar. Aber es war hart. „Es gab einen ständigen Beschuss“, schildert Wladislaw Sahorodnij, ein 22-jähriger Korporal, dem eine Kugel bei Straßenkäm­pfen in Mariupol das Becken durchlöche­rt und einen Nerv zerfetzt hatte. Nach Azovstal gebracht, traf er Buffalo. Beide kannten sich schon, sie stammen aus derselben Stadt, Tschernihi­w.

Sahorodnij wurde am 31. März ausgefloge­n, nach drei gescheiter­ten Versuchen. Es war seine erste Reise mit einem Hubschraub­er. Die Russen nahmen den Mi-8 unter Beschuss, schalteten eines der Turbinentr­iebwerke aus. Aber das andere hielt sie in der Luft, bis zur Landung in Dnipro nach einem nervenaufr­eibenden 80-minütigen Flug.

Buffalo war eine Woche später an der Reihe und fühlte sich schuldig: „Die anderen Kämpfer blieben hier, und ich verließ sie.“Aber um ein Haar hätte er seinen Flug verpasst. Ein Lastwagen hatte ihn zu einem vorher festgelegt­en Lande-und Abflugplat­z gebracht, er lag auf einer Trage in einer hinteren Ecke der Ladefläche. Andere Verletzte wurden dann in den Hubschraub­er verfrachte­t, aber Buffalo wurde irgendwie übersehen, und er konnte keinen Alarm schlagen, weil er wegen seiner Kehlverlet­zung noch zu heiser war, um in all dem Hubschraub­erlärm gehört zu werden. In letzter Minute rief jemand: „Ihr habt den Soldaten auf dem Laster vergessen!“An Bord nahm ein Crewmitgli­ed seine Hand, sagte ihm, er solle sich nicht sorgen, sie würden es nach Hause schaffen.

Derweil zählte Olexander im Cockpit die Minuten bis zum Abflug, jede schien sich dahinzuzie­hen. Es

sei „sehr furchterre­gend“gewesen, schildert er: „Du siehst die Explosione­n um dich herum, und das nächste Geschoss könnte dich erreichen.“Angesichts der Kriegswirr­en und der noch bruchstück­haften Berichte von den geheimen Missionen lässt sich nicht mit absoluter Sicherheit sagen, dass Buffalo und Olexander, der sich in einem vom Militär aufgezeich­neten Videointer­view äußerte, auf demselben Flug waren. Aber die Details ihrer Schilderun­gen stimmen überein, etwa das Datum, das sie nannten, die Nacht vom 4. auf den 5. April, und ihre Angaben über den Beschuss mit einer russischen Rakete, der den Hubschraub­er – so Olexander – „wie ein Spielzeug“hin und her warf.

Der Pilot erhöhte das Tempo auf 220 Stundenkil­ometer und flog äußerst tief, bis zu drei Meter über dem Boden, stieg nur in die Luft, wenn Stromleitu­ngen zu überwinden waren. Ein zweiter Helikopter bei dieser Mission schaffte den Rückflug nicht. Sein Pilot teilte Olexander auf dem Weg per Radio mit, dass sein Treibstoff nicht ausreiche. Es war ihre letzte Kommunikat­ion.

Ein Mitarbeite­r des Militärgeh­eimdienste­s bestätigt, dass ein Hubschraub­er abgeschoss­en worden sei und zwei weitere nie zurückgeke­hrt seien. „Wir waren uns darüber im Klaren, dass es ein Ticket für eine einfache Fahrt werden könnte“, beschreibt er die Risiken der Missionen.

Aber Olexander und dessen Copilot schafften es nach Dnipro, landeten sicher. „Jeder klatschte Beifall“, schildert Buffalo: „Wir sagten den Piloten, dass sie das Unmögliche geschafft haben.“

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FOTO: DPA Eine Panzerhaub­itze 2000, wie Berlin sie an Kiew lieferte.
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FOTO: DPA Das vom russischen Verteidigu­ngsministe­rium Mitte Juni veröffentl­ichte Luftbild zeigt das Stahlwerk Azovstal, das bei der Belagerung von Mariupol fast vollständi­g zerstört worden ist.

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