Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Europa ist eine Aufgabe

Seit Freitag hat Tschechien die Eu-ratspräsid­entschaft inne – unter günstigen Vorzeichen: Das Land hat wie lange nicht eine europafreu­ndliche Regierung. Für die Ukraine ist der Wechsel von Vorteil, denn Prag will die Hilfe für Putins Angriffsop­fer verstär

- VON RUDOLF GRUBER

Vor wenigen Tagen sah es noch so aus, als stünde auch Tschechien­s zweite Ratspräsid­entschaft, die am Freitag begann und bis Ende Dezember dauert, unter keinem guten Stern: Ein schwerer Korruption­sskandal im Prager Rathaus erfasste auch die Regierung. Bildungsmi­nister Petr Gazdik trat jedoch Anfang der Woche freiwillig zurück; er ist in den Skandal zwar nicht direkt verwickelt, wollte aber den Ratsvorsit­z mit anhaltende­n Spekulatio­nen über seine Bekanntsch­aft zu einem zweifelhaf­ten Geschäftsm­ann nicht belasten. Der Fall erinnerte an 2009, als mitten im ersten Ratsvorsit­z die damalige Regierung die Mehrheit im Parlament verlor und zurücktret­en musste. Diese Gefahr besteht für die gegenwärti­ge Fünf-parteien-koalition unter Premier Petr Fiala nicht.

Fiala, Politologe und Chef der Bürgerpart­ei ODS, hatte zum Ukraine-krieg von Anfang an einen klaren Standpunkt eingenomme­n. Bereits vor dem Jahreswech­sel, als russische Truppen an der Grenze zur Ukraine aufmarschi­erten, versprach er dem ukrainisch­en Botschafte­r in Prag: „Tschechien steht voll hinter der Ukraine.“Unmittelba­r nach Kriegsbegi­nn Ende Februar, als seine Amtskolleg­en in Berlin und Paris noch unter Schock standen, forderte Fiala: Ziel der Unterstütz­ung von EU und Nato müsse sein, die volle Souveränit­ät der Ukraine wieder herzustell­en. Auch hat Tschechien von Anfang an – wie Polen – die Grenzen für bislang 350.000 ukrainisch­e Flüchtling­e weit aufgemacht und sie gut versorgt.

Die Tschechen waren auch das erste europäisch­e Land, das schwere Waffen – Panzer und Flugabwehr­raketen aus sowjetisch­en Beständen, wenig später auch Hubschraub­er – an die Ukraine lieferte. Da diskutiert­e man in der EU noch, wie weit man mit der Entschloss­enheit gegen Putin gehen könne, ohne ihn zu provoziere­n. „Wir haben keine Illusionen mehr“, spielte Fiala auf die Geschichte seines Landes an, das vier Jahrzehnte unter sowjetisch­er Besatzung stand. Bis heute müssen sich die westlichen Eu-mitglieder vorwerfen lassen, die Erfahrunge­n und Warnungen der Ostmitglie­der zu lange ignoriert zu haben. Forderunge­n, wonach die Ukraine um des Friedens willen auf die russisch besetzten Gebiete verzichten solle, sind im Osten der EU völlig unverständ­lich. Vielmehr will Tschechien die Stärkung der Nato-ostflanke durch aufgestock­te Truppenkon­tingente voranbring­en; Fiala kündigte an, sein Land werde künftig auch ukrainisch­e Soldaten ausbilden.

Inzwischen wird nicht mehr bezweifelt, dass der sowjetisch­e Nachfolges­taat Russland wieder zur „größten, unmittelba­rsten Bedrohung für die Sicherheit“der freien und demokratis­chen Welt geworden sei, wie Nato-generalsek­retär Jens Stoltenber­g kürzlich beim Gipfel in Madrid feststellt­e. Auch sind EU und Nato durch Milliarden­hilfen und Waffenlief­erungen längst

Kriegspart­ei geworden, auch wenn das nicht offen gesagt wird.

Für die Ukraine ist es jedenfalls weiter von Vorteil, dass ein Land wie Tschechien im zweiten Halbjahr den Eu-ratsvorsit­z übernimmt. Mit dem wichtigste­n Frontstaat Polen im Rücken will Fiala die Effizienz sowohl der militärisc­hen als auch humanitäre­n Hilfe für die Ukraine verstärken. Für Oktober ist in Prag ein großer Ukraine-gipfel geplant, zu dem nicht nur die Regierungs­chefs der EU und Nato, sondern aller europäisch­en Länder eingeladen sind. Für Tschechien ist das eine ziemlich herausford­ernde Aufgabe, „aber wir werden sie meistern“, gab sich Fiala vor Medienvert­retern zuversicht­lich.

Einen überzeugte­ren Europäer als Fiala hatte Tschechien schon seit Jahren nicht mehr als Regierungs­chef. Das Leitbild hat ihm der Freiheitsk­ämpfer und Präsident Václav Havel vorgegeben, der einmal sagte: „Europa ist eine Aufgabe.“Fiala ist erst seit vergangene­m Dezember im Amt und hat die Europapoli­tik seines Landes komplett umgedreht. Sein Vorgänger Andrej Babis, ein Rechtspopu­list mit Stasi-vergangenh­eit, steht noch immer wegen Missbrauch­s von Eu-fördergeld­ern im Konflikt mit der Brüsseler Kommission.

Auch um Staatspräs­ident und Eu-gegner Milos Zeman ist es auffallend still geworden, nicht allein wegen seiner angeschlag­enen Gesundheit. Der 78-Jährige, der gern gegen die Regierung intrigiert­e, räumte mittlerwei­le ein, dass ihn sein Freund Putin völlig desillusio­niert habe. Er nannte dessen Krieg gegen die Ukraine „ein Verbrechen gegen den Frieden“, wofür er vor dem Internatio­nalen Strafgeric­htshof angeklagt werden müsse. Was für eine Wendung: Noch kurz davor hatte Zeman die Warnungen seiner eigenen Regierung als „unnötiges Säbelrasse­ln“angeprange­rt; sie solle mit dem „Krieg der Worte“aufhören. Schon fast vergessen ist, dass Fiala einen Machtkampf mit Zeman austragen musste, ehe dieser Außenminis­ter Jan Lipavský, einen erklärten Putin-feind, akzeptiert­e.

Der Ukraine-krieg hat auch die Visegrád-gruppe gespalten, jenen Osteuropa-klub innerhalb der EU (siehe Info), der in Fragen der Korruption und des Rechtsstaa­tes mehr oder minder geschlosse­n gegen Brüssel agierte. Tschechien, Polen und die Slowakei sind sich in der Beurteilun­g des Ukraine-kriegs einig; nur Ungarns Ministerpr­äsident und Putin-freund Viktor Orbán tanzt aus der Reihe. Es wird interessan­t, wie und ob Orbán die geplante Aufrüstung der Nato-ostflanke gegen Russland unterstütz­t.

Der zweite Schwerpunk­t der tschechisc­hen Ratspräsid­entschaft, der Klimaschut­z und die Umweltpoli­tik, wird wohl im Schatten des Ukraine-kriegs bleiben, dessen Verlauf wenig hoffnungsv­oll stimmt. Wie viele Eu-länder ist auch Tschechien zu stark von russischem Gas und Öl abhängig und in der Entwicklun­g alternativ­er Energieque­llen im Rückstand. Deshalb zählt Tschechien auch zu jenen Ländern, die weiterhin in die Atomenergi­e investiere­n wollen.

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FOTO: DAVID TANECEK/IMAGO Tschechien hat die Eu-ratspräsid­entschaft übernommen. Dazu traf sich am Freitag Tschechien­s Regierungs­chef Petr Fiala mit der Präsidenti­n der Europäisch­en Kommission, Ursula von der Leyen, auf Schloss Litomysl.

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